Als „Gerechter unter den Völkern“ wurde Dr. Rudolf Bertram 1979 geehrt, vier Jahre nach seinem Tod, für seine Menschlichkeit und seinen Mut bei der Rettung von 17 ungarischen Jüdinnen in Gelsenkirchen. Diesen Ehrentitel verleiht die israelische Gedenkstätte Yad Vashem seit 1948 an nichtjüdische Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihr Leben einsetzten, um Jüdinnen und Juden vor der Ermordung zu retten.
Der am 8. Mai 1893 in Olpe geborene Bernhard Rudolf Bertram kam 1937 zum St.-Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst. Sein Medizinstudium, das er mit Beginn des Ersten Weltkriegs für den Kriegsdienst unterbrechen musste, schloss er 1922 mit der Promotion in Köln ab. Er war ab 1931 Facharzt für Chirurgie im katholischen Marienkrankenhaus in Hamburg. Dort war er auch Lehrer an der Krankenpflegeschule und unterrichtender Arzt in Rot-Kreuz-Kursen. Rudolf Bertram folgte dem NS-Regime nicht widerspruchlos: Wegen „hetzerischer“ Äußerungen über Missstände im NS-Staat hatte ein Kollege ihn offenbar bei der Ärztekammer denunziert. Zwar konnte sich Bertram aus Mangel an Beweisen entlasten, doch war dadurch, laut eigener Aussage, ein beruflicher Aufstieg in Hamburg unmöglich geworden. Im Herbst 1937 ergriff er seine Chance und wechselte nach Gelsenkirchen, als Leiter der Chirurgischen Abteilung des Horster St. Josef-Hospital.
1938 heiratete Rudolf Bertram die aus Ostfriesland stammende Margot Thekla Anna Maria Fenger. Auch sie war Ärztin, hatte im ostfriesischen Norden die gynäkologische Praxis ihres Vaters übernommen, und war seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Hamburger Marienkrankenhaus tätig. Nach ihrem Umzug nach Gelsenkirchen lebte das Ehepaar mit seinen sechs Kindern und einer Haushälterin in der Zeppelinallee 17, im Süden der Stadt. 1957 zog die Familie in die Wittekindstraße 43. Beide waren gläubige Katholiken und dem gesellschaftlichen Wohl verpflichtet. Margot Bertram engagierte sich viele Jahre als Vorsitzende des Sozialdienstes Katholischer Frauen in Gelsenkirchen. Rudolf Bertram wie auch seine Frau boten neben seiner Tätigkeit im Krankenhaus Rote-Kreuz-Kurse an.
Die Luftangriffe der Alliierten trafen auch das Ruhrgebiet schwer. Besonders betroffen war der nördliche Teil Gelsenkirchens. Ab 1944 musste das Krankenhaus in Horst Teile der Chirurgie in das katholische Marienhospital in Rotthausen auslagern, da der Betrieb immer schwieriger wurde. Ein Bombenangriff am 11. September 1944 auf die Gelsenberg Benzin AG forderte zahlreiche Tote. Wenige Monate zuvor war ein Transport mit etwa 2.000 ungarischen Jüdinnen vom Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen gebracht worden. Sie mussten unter schwierigsten Bedingungen Räumungsarbeiten auf dem Gelände des zerstörten Hydrierwerks Gelsenberg übernehmen. Weil den Zwangsarbeiterinnen der Zutritt zu Bunkern und Schutzgräben verboten war, waren sie ungeschützt den alliierten Angriffen ausgesetzt. 138 Zwangsarbeiterinnen starben an den schweren Verletzungen.
Um die Versorgung der Zwangsarbeiterinnen, die bei dem Bombenangriff schwer verletzt wurden, kümmerte sich die Belegschaft des nahe gelegenen St. Josef-Hospitals, unter Federführung von Dr. Bertram. Etwa neunzig Zwangsarbeiterinnen mussten notdürftig versorgt werden. Einige von ihnen ließ der Chefarzt nach Bottrop ins Krankenhaus überstellen, andere wurden nach Rotthausen ins Marienhospital gebracht. Mindestens 17 Zwangsarbeiterinnen erlagen ihren schweren Verletzungen, zahlreiche Frauen wurden auch, nachdem ihre Verletzungen als geheilt galten, von der Gestapo abgeholt.
Doch gelang es Dr. Bertram und seinen Pflegekräften, einige der Zwangsarbeiterinnen im Krankenhaus zu behalten. Wiederholt erklärte er der Gestapo, dass diese noch nicht genesen seien. Später erinnerten sich Überlebende an die Fürsorge und Zuwendung durch den Arzt, der ihnen immer wieder Mut zusprach. Sie wurden von eingeweihten Krankenschwestern und -pflegern versorgt. Siebzehn ungarische Jüdinnen überlebten aufgrund dieses mutigen Einsatzes, der durchaus gefährlich war.
Die Dankbarkeit der geretteten Frauen für sein Handeln wies er zurück. Es sei Gottes Wille gewesen, dass sie überlebten: „Dankt also nicht mir“, schrieb er in einem mehrseitigen Brief im Mai 1945 „an meine lieben 17 ungarischen Kinder!“ Er habe nur seine Gewissenspflicht erfüllt und werde dadurch selbst reich belohnt. Er blieb bis zur Pensionierung im Jahr 1965 Chefarzt am St. Josef-Hospital.
Rudolf Bertram starb 1975 in Gelsenkirchen und wurde auf dem Altstadtfriedhof bestattet. Die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ wäre ihm möglicherweise unangenehm gewesen, vor allem, weil ihm bei seinen Aktivitäten nicht nur seine Ehefrau, sondern auch die Pfleger Alois Blazin und Franz Schimion sowie die Krankenhausfürsorgerin Ruth Theobald und die Ordensschwester Epimacha zur Seite gestanden hatten. Die Stadt Gelsenkirchen stellte 1996 ihm zu Ehren vor dem Horster St. Josef-Hospital eine Bronzetafel auf. Der Platz vor dem Krankenhaus erhielt den Namen „Rudolf-Bertram-Platz“. Einmal im Jahr erinnert die Gelsenkirchener Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an den mutigen Arzt. Eine weitere Gedenktafel, die den menschlichen und mutigen Einsatz von Dr. Bertram hervorhebt, befindet sich seit 2017 am „Haus Marien“ der St. Augustinus Gelsenkirchen GmbH, dem damaligen Standort des Rotthauser Marienhospitals.