Gelsenkirchener Barock? Ja, klar!
Vor 25 Jahren mischte ein Kulturfestival Vorurteile auf
17. März 2016, 08:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
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Wiltrud Apfeld zeigt das Plakat des Kulturfestivals "Gelsenkirchener Barock".
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Wohnküchenschrank im Stil des Gelsenkirchener Barocks mit Barfach.
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Die Vitrine bietet reichlich Platz für Geschirr, Gläser oder Vasen.
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Geschwungene Formen des Gelsenkirchener Barock.
„Gelsenkirchener Barock“ – das ist doch biederer Kitsch, oder? Vor 25 Jahren hat sich das Kulturfestival „Gelsenkirchener Barock“ diesem Vorurteil gestellt und bundesweit für Furore gesorgt. Vorstellungen des Musiktheaters im Revier, ein Barockfest auf Schoss Berge und eine Ausstellung lockten, das Geheimnis des „Gelsenkirchener Barocks“ zu ergründen.
Die Historikerin und heutige Leitern des Kulturzentrums die flora, Wiltrud Apfeld, war 1991 an dem Kulturfestival beteiligt und konzipierte eine Ausstellung zum Gelsenkirchener Barock. Im Interview blickt sie zurück.
Was ist eigentlich "Gelsenkirchener Barock"?
Dieser Begriff ist noch immer allzu oft ein Synonym für Kitsch und schlechten Geschmack. Warum das so ist und ausgerechnet mit Gelsenkirchen in Verbindung gebracht, darüber gibt es die unterschiedlichsten Theorien. Ich halte keine für stichhaltig. Feststeht, dass die Möbelfirmen, den von ihnen hergestellten Schränken Namen wie Worms, Bayreuth und eben auch Gelsenkirchen gegeben haben. Und zwar deshalb, weil Gelsenkirchen seinerzeit eine der aufstrebenden, erfolgreichsten und modernsten Städte war. Diese Entwicklungen gingen auch an der Arbeiterschaft nicht vorbei. Sie verdienten in bescheidenem Maße besser, die Wohnverhältnisse änderten sich und man wollte sich diese Schränke einfach leisten. Sie galten nicht als piefig, sondern die Menschen waren stolz darauf, sich angelehnt an einen bürgerlichen Geschmack einrichten zu können. Erst in den 1950er gibt es sozusagen eine Umkehrung, und der Begriff wird negativ belegt.
Wie kam es dazu, sich Anfang der 1990er offensiv damit auseinanderzusetzen?
Eine der treibenden Kräfte war der damalige wissenschaftliche Mitarbeiter am Städtischen Museum Gelsenkirchen, dem heutigen Kunstmuseum, Dr. Peter Hardetert. Es kam eine Runde von Leuten aus der Stadtspitze und des Musiktheaters zusammen, Sie hielten dem Vorurteil ein trotziges und selbstbewusstes „Wir sind Gelsenkirchener Barock" entgegen.
Und solch ein Stück Gelsenkirchener Barock wurde in einer Ausstellung gezeigt?
Ja, und zwar mit riesigem Erfolg. Herzstück der Ausstellung im Stadtmuseum, dem heutigen Kunstmuseum, waren Wohnküchenschränke, die in den 1920/30er Jahren zu Tausenden in den Haushalten zu finden waren, und deren Stil als „Gelsenkirchener Barock“ bezeichnet wird. Fast 70.000 Menschen besuchten diese Ausstellung, die vom September 1991 bis Januar 1992 zu sehen war.
Wie war die Reaktion darauf?
Es war wie ein Befreiungsschlag. Die bundesweite Presse hat es überwiegend positiv aufgenommen. Nur ganz vereinzelt gab es hämische Stimmen. Überrascht waren alle und erstaunt über den nun völlig anderen Umgang mit dem Vorurteil. Man kann es denjenigen, die damals so entschieden haben, nicht hoch genug anrechnen.
Besonders erfolgreich war die Ausstellung zum Gelsenkirchener Barock.
Ja, weil es eine niederschwellig angelegte Ausstellung war. Sie knüpfte an die Alltagserfahrungen der Menschen an, entweder, weil sie selbst so gelebt haben, oder sie die Wohnküchenschränke von der Wohnung ihrer Eltern oder Großeltern kannten. Es war gelebte oder erlebte Alltagsgeschichte, die ausgestellt wurde. Damit konnten die Menschen über die Generationen hinweg etwas anfangen. Viele Menschen, die die Ausstellung damals besuchten, hatten zum ersten Mal ihren Fuß in ein Museum gesetzt. Sie merkten, dass da ein Teil ihrer Geschichte präsentiert wurde und zwar ein Teil, der in der Öffentlich meistens mies gemacht wurde. Die Ausstellung hat den Menschen aber nicht wieder eine Geschmacksverirrung vorgeworfen, sondern hat sie und ihr Lebensgefühl ernstgenommen. Schließlich konnten die Menschen ja auch zu Recht stolz auf das Erreichte sein. Was soll schlecht daran gewesen sein, dass sich eine Arbeiterfamilie einen Wohnküchenschrank leisten konnte und wollte? Es sind so viele Geschichten mit diesen Schränken verbunden. Oft wurden sie zur Hochzeit verschenkt. So auch dem Herren, der mir noch im letzten Jahr davon erzählte, welche Bedeutung dieser Schrank für ihn und seine Frau hatte. Es war die Bitte der verstorbenen Frau, diesen Schrank uns zu überlassen. Denn ein Teil der damals ausgestellten Schränke ist noch heute in unserem Besitz und in einem Magazin eingelagert.
Natürlich gab es um die Ausstellung auch ausgeprägt fachliche Angebote zu sozial- oder kulturgeschichtlichen Fragen. Wichtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen aus den Universitäten, es wirkten Möbelfachleute, Restauratoren, Kunstwissenschaftler mit. Doch selbst bei den Fachleuten schwang die emotionale Seite immer mit.
Woher hatten Sie die Schränke zur damaligen Ausstellung bekommen?
Wir hatten die Bevölkerung in Gelsenkirchen und im gesamten Ruhrgebiet aufgerufen, uns einen solchen Schrank kostenfrei oder gegen einen bestimmten Preis zu überlassen. Die Schränke wurden von uns unter zum Teil abenteuerlichen Umständen abgeholt. Manchmal fragten wir uns, wie diese wuchtigen Schränke überhaupt in die Wohnungen kommen konnten. Meistens hat man uns den Schrankinhalt oder auch das, was drumherum stand, gleich mit überlassen. Kleine Ziervasen, Geschirr oder auch die Postkarten, die in der Vitrinenscheibe steckten, all das gab man uns mit. Für die Ausstellung brauchten wir auch Sofas oder die kleinen Sitzecken, die für die damaligen Wohnkücheneinrichtungen typisch waren. Auch das haben wir bekommen. So konnten wir nicht nur Schränke zeigen, sondern eine komplette typische Wohnküche.
Was ist mit all den Gegenständen nach der Ausstellung passiert?
Zum Teil wurden sie wieder verkauft, zum gleichen Preis, den auch wir gezahlt hatten. Wir hätten die ganze Ausstellung verkaufen können. Es gab sogar Interessenten, die bereit waren, sich auf eine Liste setzen zu lassen. Gerade in den damaligen Wohngemeinschaften waren die Schränke begehrt. Es wurde aber nicht alles verkauft. Der zentrale Teil der damaligen Ausstellung ist eingelagert, und das sind nicht nur Schränke, sondern auch die Stellagen, mit denen die Zimmer dargestellt wurden, alte Radios, Großfotos und all die vielen kleinen Dinge, die die Ausstellung lebendig machten. Die besten Schränke sind nach wie vor in unserem Besitz und sorgfältig eingelagert.
War die Ausstellung, nachdem sie in Gelsenkirchen gezeigt wurde, auch an anderen Orten zu sehen?
Ja, sie wurde anschließend mehrfach ausgeliehen. Sie war zum Beispiel im Weser-Renaissancemuseum in Lemgo und in Löhne im östlichen Westfalen wo bis heute viele Möbelfirmen Küchenmöbel produzieren, damals den Gelsenkirchener Barock, heute die Hochglanzeinbauküche. Einzelobjekte der Ausstellung wurden dauerhaft verliehen, ein Schrank ist zum Beispiel Bestandteil der Dauerausstellung im Industriemuseum Oberhausen. Auch heute gibt es immer mal wieder Anfragen nach einzelnen Stücken aus der Ausstellung.
Man könnte die Ausstellung 25 Jahre danach also durchaus noch einmal zeigen?
Das Thema ist nach wie vor spannend und stadt- und sozialgeschichtlich wichtig. Wenn die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen vorhanden wären, ließe sich aus dem Kernbestand eine an die Erstpräsentation angelehnte, aber natürlich aktualisierte Ausstellung machen, die sich mit der Wohn- und Alltagswelt nicht nur des Ruhrgebiets befasst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass solch eine Ausstellung heute ähnlich gut besucht werden würde. Noch heute rufen mich Leute wegen der damaligen Ausstellung an, schicken mir Fotos oder fragen mich, ob ich Interesse an einem Schrank hätte. Zum Teil sind es Leute, die die Ausstellung besucht oder irgendwie davon gehört haben. Es sind auch heute noch ganz viele Alltagsgeschichten mit diesem Möbel verbunden. Und als besonderen lokalgeschichtlichen Part sollte diese neue Ausstellung über das Image der Stadt Gelsenkirchen reflektieren.
Sind zum 25. Jubiläum der Veranstaltungsreihe andere Aktivitäten geplant?
Nein, aber ich habe über die vor 25 Jahren durchgeführte Ausstellung und zum Thema Gelsenkirchener Barock bei mir im Kulturraum „die flora“ einen Vortrag gehalten. Für weitere Aktivitäten fehlen einfach die Ressourcen. Auch das Referat Kultur, das seitens der Verwaltung für die Sammlung zuständig ist, hat dafür keine Kapazitäten. Das soll aber niemanden davon abhalten, initiativ zu werden. Gerne würde ich das dann als Kuratorin der Sammlung unterstützen, aber selbst stemmen könnte ich es nicht.
Frau Apfeld, zum Schluss eine persönliche Frage: Haben Sie eine Wohnküche und vielleicht sogar einen Schrank aus der Zeit des Gelsenkirchener Barock?
(lacht) Ich wohne in einem Altbau mit einer großen Wohnküche. In der steht kein Gelsenkirchener Barock, aber ein großer geschreinerter Buchenschrank.