„Nicht Herkunft, sondern Armut ist unsere Herausforderung!“
Roma in Gelsenkirchen: Experten beleuchteten Hintergründe und gaben Antworten
18. Mai 2017, 17:29 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
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Konzentrierte Zuhörer: Gäste der Veranstaltung.
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v.l.n.r.: Sam Dzemailovski (Roma-Aktivist), Uwe Gerwin (Stadt Gelsenkirchen), Martina Mail (Moderation), Jan Opiela (kath. Roma-Seelsorger).
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Referent Jan Opiela.
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Referent Sami Dzemailovski.
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Referent Norbert Mappes-Niediek.
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„Integration beginnt auch ganz einfach damit, dass ich den Kindern auf der Straße immer wieder ihren Fußball aufpumpe“, so 'Fahrradflüsterer' Guido Tuchenhagen bei der Publikumsdiskussion. Links: Barbara Bienert (NhN).
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Seit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Balkanländer kommen Menschen teils aus großer Armut zu uns. Sie ziehen dorthin, wo Wohnraum vorhanden und Mieten günstig sind, auch nach Bulmke-Hüllen in Gelsenkirchen. Nicht immer gelingt das problemlos. Die Ethnie der Roma ist „anders“, aber wie genau, wissen die Wenigsten. Grund genug, die aktuelle Situation und Hintergründe mit Experten zu beleuchten.
Dafür holte sich das Projektteam von „Nachbarn helfen Nachbarn (NhN)“ des evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid das Referat Zuwanderung und Integration/Kommunales Integrationszentrum der Stadt Gelsenkirchen als Kooperationspartner mit ins Boot. Ende März gelang auf der Vortragsveranstaltung „Roma unter uns – und doch ganz anders, Experten beantworten Publikumsfragen“ ein erster inhaltlicher Dialog über Hintergründe der Ethnie. Osteuropakorrespondent Nobert Mappes-Niediek, der katholische Priester Jan Opiela und der Roma-Aktivist Sami Dzemailovski trafen im Bulmker Gemeindehaus auf ein bunt gemischtes Publikum aus rund 100 Gästen.
Auf vielfachem Wunsch stellen das Referat Zuwanderung und Integration und NhN alle vorhandenen Vorträge der Veranstaltung als Drucksache und online als PDF sowie Audiodateien zur Verfügung.
„Wer willkommen geheißen will, muss sich an Regeln halten – und wer dies tut, soll eine faire Chance bekommen, hier Fuß zu fassen“
Gelsenkirchen arbeitet bereits seit 2013 mit einem integrierten Handlungskonzept für Zuwanderung aus den Balkanländern. „In unserer Stadt bleibt die Zahl von 6400 bulgarischen und rumänischen Zuwanderern seit 2016 in etwa stabil und liegt gemessen an der Stadtbevölkerung bei 2,4 Prozent“, erklärte Uwe Gerwin, Leiter des Referates Integration und Zuwanderung der Stadt Gelsenkirchen. Die Neubürger sind jung und haben viele Kinder. Sieben bis acht Prozent machen die Zwei- bis Sechsjährigen im gesamtstädtischen Schnitt aus. Eine Chance gegen Überalterung und für Demografiewandel?
Die Zuwanderung konzentriert sich nur auf Stadtteile in Gelsenkirchen-Süd. In der Altstadt sind es z. B. fünf Prozent, in Schalke-Nord fast 10 Prozent, in Bulmke-Hüllen rund drei Prozent, gemessen an der Stadtteilbevölkerung. Circa 740 Zuwanderer wohnen rund um die Olgastraße, Bulmker Straße, Germanenstraße, Florastraße und Alemannenstraße. Neben vielen Beschwerden, macht auch die hohe Ein- und Auszugsquote der Behörde sowie der Nachbarschaft zu schaffen.
„Dubiose Geschäftemacher verdienen mit Roma als verschiebbare Masse viel Geld – aber sie sind eben auch ganz normale Menschen“
Seit 2004 betreut der katholische Priester Jan Opiela von Köln aus Roma und Sinti. Er reist durch ganz Deutschland, aber auch in osteuropäische Länder und kennt die Lebensverhältnisse seiner „Schäfchen“ hinter den Kulissen. Als „Gottesmann“ genießt er ihr Vertrauen. Launig erzählte er davon, wie die Bezeichnung Roma, Sinti oder Zigeuner selbst von der eigenen Ethnie unterschiedlich gedeutet wird und manche Stilblüten treibt. Die Romakultur sei eine Lückenwissenschaft. Deshalb empfahl er: „Promovieren Sie zu diesem Thema!“
Er sprach über das Geschäftsmodell „Problemimmobilien und Sozialbetrug“, das nicht nur in Gelsenkirchen, sondern auch in anderen Städten „erfolgreich“ ist.
Roma seien „Ping-Pong-Europäer“, für die Europa eine einzige „Stadt“ sei. „Man muss sich an den Zu- und Wegzug verschiedener Gruppen in verschiedene Mitgliedsstaaten der EU gewöhnen.“ Auch wenn die Integration von Roma schwieriger erscheine als zum Beispiel die Integration von Flüchtlingen, rate er dazu, einen langen Atem zu entwickeln und bei Fehlschlägen nicht zu enttäuscht zu reagieren. Gerade deshalb sei der Austausch mit den Roma wichtig, ebenso verschiedenste Modellprojekte zur Integration.
Ernst wird er dann, wenn er die Geschichte einer serbischen Romni aus Wattenscheid, Grenze Gelsenkirchen erzählt. Die Mutter von fünf Kindern lebte bereits seit ihrem siebten Lebensjahr in Deutschland. Alle Kinder gingen hier zur Schule. Jetzt wurde sie abgeschoben. Sie war all die Jahre nur geduldet. „Da fragt man sich, was das noch soll“, stellte Opiela nüchtern fest.
"Roma: Bürger zweiter Klasse?"
„Roma werden oft nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft angesehen“, sagte Roma-Aktivist Sami Dzemailovski (53). Er ist selbst Rom und in der heutigen Republik Mazedonien geboren. Obwohl Staatsbürger auch der meisten EU-Länder, gelten Roma als Bürger zweiter Klasse. Ihnen stehen nicht die gleichen Rechte zu wie der Mehrheitsbevölkerung und anderen Minderheiten. Es sei längst überfällig, dass das „demokratische“ und „zivilisierte“ Europa, seine Verantwortung und Pflichten für die eigenen Bürger wahrnimmt. Dzemailowski riet dazu, Roma-Moderatoren einzubeziehen. Nach seinen positiven Erfahrungen leisteten diese auch ohne sonst übliche Berufs- oder Studienabschlüsse wichtige Integrationsarbeit. Als Beispiel nannte er das Projekt „JUROMA, Junge Roma aktiv“ (Otto-Benneke-Stiftung, Köln). Die Mentoren vermittelten jungen Roma Selbstvertrauen und formulierten gemeinsam Ziele.
Dzemailovski ist Mitgründer von Carmen e.V., I.K.U.R., Düsseldorf, Romano Than, Dortmund, dem Jugendverband Amaro Drom e.V. und arbeitet im Romed2-Programm des Europarates. Er ist pädagogischer Mitarbeiter für Roma beim KIGE Düsseldorf, beim Rom e.V. und arbeitete für die Otto Benecke Stiftung e.V.
„Wir haben ein Armuts- und kein Ethnienproblem“
„Man hört oft, dass Rumänien und Bulgarien ihre Roma nach Westen schicken. Das stimmt nicht“, trug Osteuropakorrespondent Norbert Mappes-Niediek aus Graz vor. Roma migrieren etwa proportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung. Etwa 10 Prozent der Einwohner von Ländern wie Bulgarien, Rumänien, Mazedonien dürften Roma sein, und nach allem, was man weiß, sind auch etwa 10 Prozent der Migranten Roma. Weil aber die armen Bulgaren, Rumänen, Mazedonier nicht auswandern, nehmen wir die Verhältnisse in den Herkunftsländern verzerrt wahr. Armut der Roma bedeute mehr als nur kein Geld zu besitzen. Roma würden deshalb nie alles auf eine Karte setzen, sondern ihre Existenz stets auf verschiedene Pfeiler verteilen. Sie wanderten nicht ausschließlich zu, um Sozialleistungen zu erhalten, sondern würden sich hier stets Puzzle-Existenzen aufbauen.
Bildung sei in der alten Heimat auch nicht der Schlüssel, um Existenzprobleme zu lösen. Deshalb müssten sie erst lernen, dass Bildung hier Voraussetzung für einen sicheren Arbeitsplatz sei.
Mappes-Niediek: „Wir denken, nur Roma seien arm und halten das soziale Problem in erster Linie für ein ethnisches. Die wahren Probleme sind aber eine Armut, die sich verstetigt, ein eklatanter Mangel an bezahlter Arbeit und die Verödung ganzer Regionen.“
Publikumsdiskussion
Eindrücke und Anregungen der Veranstaltungsbesucher:
„Es wurde ganz deutlich: Unsere Herausforderung ist nicht die Herkunft, sondern grundsätzlich die Armut der Zuwanderer. Wir sollten solche Veranstaltungen öfter in weiteren Stadtteilen durchführen. Und wir brauchen dringend eine bulgarisch/rumänische Selbstorganisation vor Ort.“
Referat Zuwanderung und Integration/Kommunales Integrationszentrum, Stadt Gelsenkirchen
„Eine solche Veranstaltung sollte als Stadtteilaktion noch einmal stattfinden, um Begegnung zu schaffen, direkt und vor Ort. So kann man am besten Vorurteile abbauen, um sich überhaupt damit auseinander setzen zu wollen. Bürger/innen müssen noch mehr erreicht werden, daher: eine Folgeveranstaltung wäre gut!"
Quartiersnetz/Generationennetz Gelsenkirchen, Bulmke-Hüllen
„In Gelsenkirchen laufen bereits ehrenamtliche Patenschaften für Flüchtlingsfamilien sehr erfolgreich. Das sollte doch auf Romafamilien ausgeweitet werden, um auch ihren Kindern beim Schulbesuch und generell im Bildungsbereich beizustehen.“
Neu in GE e.V., Bulgarischer Verein, Gelsenkirchen
„Ich bin sehr froh, die Zeit investiert zu haben. Neu war für mich, dass in Rumänien und Bulgarien so viele Kinder der Ethnie Roma einer Sonderschule oder einer Extra-Klasse zugewiesen werden. Ich würde mir wünschen, dass gerade Erzieher und Lehrer, die mit Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern täglich zu tun haben, die Möglichkeit bekämen, sich die Vorträge ebenfalls anzusehen."
Martinschule, Gelsenkirchen Bulmke-Hüllen
„Die Vorträge haben mir gut gefallen. Dennoch, das leider vorhandene Negative kam mir zu kurz: aggressives Betteln, Einkaufen ohne zu bezahlen, Besuche bei Menschen, die nicht zu Hause sind…“
Bürger aus Hüllen
Zum Hintergrund der Veranstaltung
Das dreijährige NhN-Projekt nahm im Juni 2014 mit Pfarrerin Dr. Zuzanna Hanussek und Projektkoordinatorin Barbara Bienert (ev. Kirchenkreis GE-WAT) seine Arbeit in Bulmke-Hüllen auf. Es endet zum 31. Mai 2017. Ziel war, hilfebedürftige Anwohner angrenzender, verlassener Schwerindustriebrachen zu motivieren, sich wechselseitig nachbarschaftlich zu unterstützen. Das gelang Fachjournalistin und Sozialpädagogin Bienert mit Nachbarschaftstreffen und einem bundesweit ausgezeichneten Hoffest in der Bronnerstraße, in Bulmke.
Zum gleichen Zeitpunkt zogen viele Roma nach Hüllen. Die einheimischen Anwohner, teils selbst in bescheidensten Verhältnissen lebend, fühlten sich von den Zuwanderern in ihrem Stadtteil überfordert. Verunsicherung und Misstrauen gegenüber den neuen Nachbarn bestimmten das Alltagsleben. „Sicherheitsgefühl und Ordnungsbedürfnis gehen immer vor“, sagte die Projektkoordinatorin. „So war ein vertrauensvoller Aufbau von gegenseitiger, zwischenmenschlicher Nachbarschaftshilfe nicht möglich. Schon früh überlegten wir, wie wir die alteingesessenen Nachbarn auch in ihrer Lage stützen können. Denn Integration geht ja nicht nur in eine Richtung – sie ist eine Zweibahnstraße. Und darüber müssen sich alle beteiligten Seiten zuhören und austauschen, damit sie anschließend vernetzt handeln können.“ Kommune, Kirchen und Wohlfahrtsverbände nehmen die Herausforderungen der Zuwanderung an: Jetzt gilt es zu verstehen, wer die Roma sind, die bleiben und sich einbürgern wollen, um als Nachbarn friedlich zusammenzuleben.