09. November 2018, 19:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren,
es hat etwas, dieses Musikstück, für das ich den Falken ganz herzlich danken möchte! Es hat etwas sehr Stimmungsvolles, gerade zu dieser Stunde im Stadtgarten. Fast fühlt man sich in diesem Moment – umgeben von den hohen Bäumen, abseits der Straßen – wie in eine andere Zeit versetzt.
Allerdings, das muss ich dann doch hinzufügen: Wir fühlen uns ein in eine Zeit, an die wir uns erinnern müssen – die wir aber ganz sicher nicht romantisieren wollen und auch nicht können. Beim besten Willen nicht. Denn eine Zeit, in der ein Lied über Hohe Tannen mit ein Ausdruck von Rebellion war – die kann einfach keine gute gewesen sein. Dr. Schmidt hat es ja eben bereits geschildert: Die meisten der Gelsenkirchener Edelweißpiraten, die sich hier im Stadtgarten getroffen haben, wurden schon bald von den Nationalsozialisten festgenommen und auch misshandelt. Ihre Geschichte hat – wie so viele andere – kein gutes Ende gefunden.
Die Gelsenkirchener Edelweißpiraten wurden zu Opfern des Nationalsozialismus. Darum erinnert dieses Mahnmal hier im Stadtgarten – neben den jüdischen Opfern, den politisch Verfolgten, den Homosexuellen, den Sinti und Roma, den Kriegsgefangenen – auch an sie. Es erinnert an junge Frauen und Männer aus Gelsenkirchen, die ein unangepasstes und freies Leben führen wollten, die völlig zu Recht ihre Jugend genießen wollten, die sich nicht an den Lügen, am Hass und an den Verbrechen des NS-Staates beteiligen wollten – und das auch nicht getan haben. Und die genau deshalb ins Visier des Regimes geraten sind.
Das Beispiel der Edelweißpiraten macht deutlich: Im Nationalsozialismus genügte es bereits, nicht mitmachen zu wollen; es reichte schon, ein wenig außerhalb des NS-Staates und der verordneten Volksgemeinschaft zu stehen – um mit voller Härte attackiert und verfolgt zu werden.
Aus solch blutigen und brutalen Erfahrungen leiten sich Erkenntnisse ab, Erkenntnisse und Lehren, die auch uns Nachgeborenen noch heute Orientierung bieten können – und sogar müssen. Erkenntnisse wie diese: Eine Gesellschaft, die nicht einfach eine Gesellschaft sein will, sondern etwas anderes, eine „Volksgemeinschaft“ zum Beispiel – eine solche Gesellschaft wird kaum Menschen akzeptieren, die ein freies, ein individuelles Leben führen wollen. Die wird keine Freiräume dulden.
Dessen müssen wir uns bewusst sein. Die Geschichte der Edelweißpiraten muss uns darum ebenso eine Warnung sein, ebenso wie die Geschichte der Gelsenkirchener Juden. Sie muss unser Sensorium schärfen für den Moment, da Menschen in Deutschland auf die Straße gehen und rufen: „Wir sind das Volk!“ – und eigentlich meinen: Andere sind es nicht. Nicht die so genannten Eliten, die angebliche Lügenpresse, Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund, selbst wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Das verbale Ausschließen, das lehrt die Geschichte, ist oft der erste Schritt.
Darum dient unsere jährliche Kundgebung am 9. November, genau diesem Zweck: Das Bewusstsein für Gefahren zu erhalten. Wenn wir uns Jahr für Jahr am Abend des 9. Novembers treffen, dann tun wir das aus zwei Gründen. Zum einen gedenken wir der jüdischen Opfer des 9. November 1938; der Opfer eines Gewaltexzesses, begangen von Nachbarn an Nachbarn, hier in unserer Stadt. Und das nicht heimlich in den Kellern der Gestapo, sondern als öffentliches Zeichen, auf den Straßen unserer Stadt.
Zum anderen treffen wir uns aber auch zu einer Kundgebung, um uns gegenseitig wie auch gegenüber Dritten deutlich zu machen: Wir in Gelsenkirchen haben unsere Lektionen aus der Geschichte gelernt – und dafür stehen wir ein. Für uns steht fest: So etwas wie am 9. November 1938 darf nie wieder geschehen, so etwas dürfen wir nicht nochmals zulassen! Und darum ist auch unstrittig, dass wir nie wieder eine solche Hetze gegenüber einzelnen Gruppen zulassen dürfen wie jene in den 1930er-Jahren, die zu den Gewalttaten des Jahres 1938 führten!
Schon bei der ersten Gelsenkirchener Kundgebung zum 9. November in den 1960er-Jahren war dieses Anliegen elementar – und diese Botschaft ist seitdem ganz sicher nicht weniger wichtig geworden. Sie hat sich nicht erschöpft. Im Gegenteil: Wir müssen sie heute sogar wieder häufiger und auch deutlicher artikulieren. Denn man kann es nicht übersehen und auch nicht abstreiten: In unserem Land ist wieder eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über unsere Vergangenheit im Gange!
Im Bundestag sitzt eine Partei, deren Fraktionsvorsitzender die Verbrechen der NS-Zeit allen Ernstes per bewusst platziertem Tabubruch als einen „Vogelschiss“ der Geschichte bezeichnet. Ein Parteifreund von ihm will eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Und wo solche Äußerungen möglich sind, da trauen sich noch mehr merkwürdige Gestalten aus der Deckung, Gruppen wie die vermeintlichen „Mütter gegen Gewalt“, Personen, deren Biografien und Auftritt es grotesk erscheinen lässt, dass es ihnen angeblich darum geht, gegen Gewalt zu sein.
Man sieht – leider! – in etlichen Städten und Regionen Deutschlands, was möglich ist, wenn solchen Gruppen kein Einhalt geboten wird. Was geschieht, wenn man sie gewähren lässt, wenn Landesregierungen und wichtige gesellschaftliche Gruppen sich wegducken. Wenn zu viele Bürgerinnen und Bürger sagen: „Tja, schön ist das nicht, irgendwer müsste was machen. Aber ich? Nein, ich doch nicht…“
So ist das leider an vielen Orten, an zu vielen Orten, aber – und dafür bin ich dankbar! – nicht in Gelsenkirchen. Die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, haben sich deshalb am 16. September Zeit genommen, als jene Demonstration in Gelsenkirchen angekündigt wurde. Viele von Ihnen hatten auch Nachbarn, Freunde, Bekannte, Kolleginnen und Kollegen eingeladen, mit dabei zu sein bei der Gegenkundgebung, etliche sind gekommen – und so haben wir gemeinsam ein starkes Statement abgegeben. Ein Statement für ein friedfertiges, tolerantes und demokratisches Gelsenkirchen – für eine Stadt und Stadtgesellschaft, die sich rechte Stimmungsmache nicht bieten lässt!
Die ganz deutlich macht: Rechtsextreme sind in Gelsenkirchen nicht willkommen!
Dabei will ich ehrlich sein: Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob das so gelingen würde, ob das Zahlenverhältnis zwischen aktiven Demokraten und Nicht-Demokraten so deutlich sein würde. Aber es war deutlich. Sehr deutlich. Und so haben wir in Gelsenkirchen eine Antwort gefunden, die unserer Gegenwart gerecht geworden ist – und die auch den Lehren der Vergangenheit gerecht geworden ist. Den Lehren gleich beider Gedenktage, die auf den 9. November fallen.
Denn der 9. November ist ja auch – und da steckt, wie ich finde, eine starke Aussage drin – ein Gedenktag der Demokratie. Er ist ein Tag, der daran erinnert, dass Demokratie zwar ein kostbares Gut ist, dass sie aber kein Geschenk war, keines ist und auch in Zukunft keines sein wird. Sie musste in unserem Land unter großen Opfern erkämpft werden. Sie wird auch in Zukunft unseren Einsatz verlangen.
Obwohl es nicht gelungen ist, aus den Umbrüchen der Jahre 1918 und 1919 eine robuste demokratische Ordnung zu begründen, so hat die am 9. November 1918 ausgerufene Republik doch einen epochalen Wandel gebracht. Die heute vor 100 Jahren ausgerufene Republik hat das Wahlrecht für alle möglich gemacht. Nicht bloß für die Zechenbesitzer, sondern auch für Arbeiter; nicht allein für Männer, sondern auch für Frauen – und damit viele weitere soziale Rechte!
Die Revolution von 1918 stand im erklärten Widerspruch zu dem, was Rechte und Rechtsradikale heute so gerne wieder haben wollen: den arroganten Nationalismus eines autoritären Staates. Die Revolution von 1918 machte Schluss mit einem autoritären Nationalismus, der in einen Weltkrieg und zu enormen Leiden geführt hatte.
Millionen Menschen starben auf den Schlachtfeldern, und wer nicht zu Tode kam, war in vielen Fällen körperlich wie seelisch versehrt. Wer dies als gute, alte Zeit verklärt und darauf auch noch gerne stolz sein möchte – der hat ganz offenkundig ein Problem mit den Grundprinzipien der Demokratie!
Darum ist klar: Beide Gedenktage haben uns noch heute viel zu sagen. Sie verbinden sich zu der einen wichtigen Erkenntnis: Demokratie und Menschenrechte gehören zusammen, sie sind nicht teilbar. Und beide müssen gemeinsam bewahrt und geschützt werden, immer wieder.
Dies zu tun, ist unsere Aufgabe. Die wird uns niemand abnehmen. Es kommt deshalb auf uns an, auf Sie und mich. Und Sie und ich, wir alle werden im Alltag mehr als genug Gelegenheiten haben, für diese elementaren Werte einzutreten. Es wird vielfach auf unsere Zivilcourage ankommen. Darauf, dass wir rechte Parolen, menschenfeindliche Sprüche nicht einfach hinnehmen, nicht so tun, als ob wir nichts gehört hätten – sondern die richtigen Widerworte finden.
Und genauso wichtig ist es, dass wir von Zeit zu Zeit – immer wenn es nötig ist – gemeinsam ein öffentliches Zeichen setzen. Dass wir deutlich machen, dass unsere Stadt und unser Land für Vielfalt, Toleranz und Demokratie stehen. Und dass es nur eine Gruppe gibt, die bei uns keine Toleranz erwarten kann: Jene, die sich nicht an diese Regeln des Miteinanders halten wollen, ganz gleich welcher Herkunft!