"Wir haben, was andere nicht haben"
Rede zum Neujahrsempfang
18. Januar 2019, 21:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbürgermeister Frank Baranowski zum Neujahrsempfang der Stadt 2019
- Es gilt das gesprochene Wort –
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener,
ein neues Jahr, ein sehr bewährter Rahmen – und es ist schön, dass Sie mit dabei sind! Seien Sie herzlich willkommen zum Neujahrsempfang 2019! Sie alle, die diese Stadt ausmachen und sich für sie engagieren, an so vielen verschiedenen Stellen – in den politischen Gremien von Stadt, Land, Bund und Europa; in Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen; in sozialen Initiativen, Verbänden und Gewerkschaften; Kirchen, Religionsgemeinschaften, Sport und Kultur!
Und seien Sie besonders herzlich willkommen, wenn Sie heute Abend zum ersten Mal dabei sind. Ja, genau Sie möchte ich besonders begrüßen: unsere jüngsten Gäste, die besten Absolventinnen und Absolventen unserer Schulen, Hochschulen und Berufsausbildungen im vergangenen Jahr! Und ich möchte Ihnen noch einmal zu Ihrem hervorragenden Abschluss gratulieren! Und wenn Ihnen, meine Damen und Herren, das einen Applaus wert ist – richten Sie ihn gerne zum ersten Rang!
Ja, es ist schön, dass Sie mit dabei sind, zu Beginn des Jahres 2019. Ob es ein gutes wird, ein besonderes vielleicht, ein denkwürdiges gar, muss sich zeigen. Über das zurückliegende können wir jedoch sicher sagen: 2018 war ein besonderes Jahr.
Wie sonst hätte es auch sein sollen, wenn die Zeit des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet ausläuft, wenn eine Geschichte endet, die derart prägend für unsere Region und für viele von uns war? Einen solchen Abschied muss man würdig begehen, und das haben wir getan – bei zahlreichen Anlässen, bei der letzten Ratssitzung 2018, beim letzten Heimspiel in der Arena. Man bekam das Steigerlied fast nicht mehr aus dem Ohr.
Und dann dieser Moment in Bottrop, als auf Prosper Haniel das letzte Stück Kohle nach oben gebracht wurde – das war schon bewegend. Später stellte sich noch heraus, dass auf der allerletzten Seilfahrt zwei Kumpel aus Gelsenkirchen mit dabei waren. Obwohl wir schon dachten, das Kapitel bereits 2008 abgeschlossen zu haben, war es doch bis zum Schluss eine Gelsenkirchener Geschichte. Und ich freue mich besonders, dass Aydener Camci und Orhan Taspinar heute ebenfalls anwesend sind.
Und so stand 2018 im Zeichen eines großen Abschiedes, der nun Vergangenheit ist. 2019 muss darum, das ist nur folgerichtig, im Zeichen des Anfangs stehen. Und es gibt ja viele Anfänge in unserer Stadt – über die wollen wir heute Abend reden.
Wir wollen über Anfänge reden, später im Foyer, zuvor auf der Bühne, mit zwei Gästen. Der eine ist Direktor des „Institute for Environment and Human Security” der Universität der Vereinten Nationen sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen. Herr Professor Messner ist, Sie haben es gemerkt, Experte für das große Ganze. Aber er hat auch zum Ruhrgebiet interessante Dinge zu sagen. Der von ihm geleitete Beirat etwa vertritt eine These, die kurz gefasst so lautet: Für die Städte der Zukunft gibt es ein Vorbild, und das ist nicht London, Paris oder New York, sondern – ja, Sie hören schon richtig – das Ruhrgebiet! Seien Sie herzlich willkommen, sehr geehrter Herr Professor Messner!
Unser zweiter Gast ist Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen und hat diese Aufgabe erst vor wenigen Monaten angetreten. Er kennt also unsere Region, versteht sich auf Neuanfänge – und da er zuvor in Sachsen tätig war, kennt er auch andere Regionen im Umbruch. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen, sehr geehrter Herr Dr. Jaeckel!
Und ehe wir ins Gespräch einsteigen, möchte ich noch einen besonderen Dank aussprechen. Für die Sparkasse Gelsenkirchen wird 2019 sicher ein denkwürdiges Jahr, denn sie feiert ihr 150-jähriges Bestehen. Sie hat 150 Jahre Wirtschaftsleben in unserer Stadt mitgestaltet und in dieser langen Zeit vieles möglich gemacht. Heute Abend nun macht sie mit ihrer Unterstützung unseren Neujahrsempfang möglich. Dafür vielen Dank – und natürlich von dieser Stelle meinen herzlichen Glückwunsch!
Eine Stadt voller Anfänge
Und so beginnen wir nun mit den Anfängen. Das kann man an sehr vielen Stellen tun. Wir könnten beispielsweise bei Norres Schlauchtechnik starten, bei Schade Lagertechnik oder einem der zahlreichen Unternehmen aus Gelsenkirchen, die im Bergbau begonnen, sich dann aber neue Betätigungsfelder und Märkte erschlossen haben. Bei Unternehmen, die sich – ähnlich wie die Stadt Gelsenkirchen – ein neues Geschäftsmodell entwickelt haben.
Wir können aber auch an einem Ort starten, den Sie eben schon im Film gesehen haben und der zu einem der Top-Fotomotive Gelsenkirchens geworden ist. Mal sieht man auf diesen Bildern den Nordsternturm mit dem Herkules, mal den Blick vom Turm auf Park und Kanal. Dabei kommen immer neue Attraktionen hinzu: Der Glas-Anbau von Vivawest etwa, der nachts mit der neuen Lichtinstallation sehr viel hermacht – und einen schönen Kontrast zur Architektur von Schupp und Kremmer bildet. Wenn Sie eine Weile nicht mehr da waren: Schauen Sie sich das mal an. Es lohnt sich!
Das sage ich nun nicht, weil ich der Auffassung bin, dass Sie mal wieder Ihren Selfie-Stick spazieren führen sollten. Sondern weil auch Nordstern stellvertretend für unsere Stadt steht. Weil es ein Ort ist, der einen schmerzhaften Abschied von der Kohle erlebt hat – und wieder zu einem lebendigen Ort geworden ist. Zu einem Kraftzentrum unserer Wirtschaft sogar, mit derzeit rund 1.500 Arbeitsplätzen. Und bald werden es noch mehr sein: Das Heiners erweitert sich; Vivawest, Deutschlands zweitgrößtes Wohnungsunternehmen, baut seine Zentrale aus; die Ingenieursgesellschaft Müller BBM verstärkt ihren Sitz, Gelsen-Net will herziehen. Selbst die Marke von 2.000 Beschäftigten erscheint nicht unrealistisch.
Damit sind wir zwar noch nicht ganz bei der Beschäftigtenzahl aus Zechen-Zeiten, kommen ihr aber schon durchaus nahe. Und das ist, so muss man es sagen, einfach eine enorme Erfolgsgeschichte. Denn wer hätte das nur im Entferntesten erwartet? Wer hätte sich in den 1980er- oder 1990er-Jahren getraut, so etwas anzukündigen – oder sich auch nur vorzustellen?
Und dabei ist das nicht die einzige Erfolgsgeschichte. Wir können genauso gut über Graf Bismarck sprechen. Der ehemalige Industriehafen war ja lange – sagen wir: Nicht eben ein zugängliches Naherholungsgebiet. Es hat auch ein bisschen gedauert, bis die Vermarktung der Grundstücke anlief. Aber sie kam ins Rollen, und irgendwann war sie nicht mehr zu halten. Inzwischen müssen wir nicht mehr für Graf Bismarck Werbung machen – wir machen mit Graf Bismarck Werbung!
Oder der Schalker Verein, auch da haben wir gerade eindrucksvolle Bilder gesehen: In den nächsten Jahren wird da eine neue Schule entstehen, mehrere Logistik-und Fertigungs-Unternehmen sind bereits da, weitere Ansiedlungen schon vereinbart. Oder das Areal der Chemischen Schalke an der A 42, wo der Neubau von Pilkington inzwischen so gut wie abgeschlossen ist…
Auf diese Art kommt einiges zusammen. Prozesse, die sich über Jahre hingezogen, die Zeit gekostet haben, gelangen jetzt an ihr Ziel. Und immer wieder können wir sagen: Es hat zwar gedauert – aber es hat sich gelohnt!
Es hat sich gelohnt, auch wenn das viele nicht erwartet haben. Wer dachte denn, dass eine Blümchenschau wie die Buga 1997 – denn so haben das viele seinerzeit gesehen – der Startpunkt zu einer solchen Entwicklung sein könnte? Zunächst war man ja nur froh, dass es keinen verregneten Sommer gab, dass überhaupt Besucher kamen. Und wer weiß: Vielleicht hätte sonst niemand das Potenzial des Areals für sich entdeckt!
Dass es anders kam, lag aber nicht allein am Wetter. Es hatte auch etwas mit Mut zu tun. Denn man musste sich auch trauen: Eine Gartenschau auf einem Zechengelände, so selbstverständlich war das nicht zu einer Zeit, als man sich im Ruhrgebiet immer noch ein bisschen kleinmachte. Sie erinnern sich vielleicht noch: Nicht wegen des Strukturwandels, sondern wegen der schmutzigen Industrie…
Mut gehört dazu, und Geduld. Bei allen Arealen dauerte es ja, bis an eine Nachnutzung ernsthaft anvisiert werden konnte. Und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Denn im Nachhinein kann man leicht sagen: Klar, das mit Nordstern musste klappen. Das Gelände! Die tollen Gebäude! Aber so ist das nicht. Ein Muss gab und gibt es nicht, ganz und gar nicht! Echte Erfolgsgarantien in der Stadt- und Wirtschaftsentwicklung, die kann und wird Ihnen niemand geben!
Man muss sich trauen - und wir trauen uns
Vor der Hacke is duster, hat man im Bergbau gesagt. Soll heißen: Man weiß nicht, was kommt. Man weiß nicht genau, ob das Flöz vor einem mächtig ist. Wie gefährlich die Arbeit ist. Ob der Stollen trägt. Man kann nur Vermutungen anstellen. Am besten gut begründete. Aber dann, wenn man den Eindruck hat, es trägt – dann muss man sich trauen! Und so halten wir das auch heute: Wir haben keine Garantie auf Erfolg, auch bei den heutigen Projekten nicht. Auch an der Bochumer Straße nicht. Aber wir trauen uns!
Dabei ist klar, dass Ückendorf ein anderer Stadtteil sein wird als zu Zeiten von Rheinelbe, Alma und dem Gussstahlwerk. Aber klar ist auch: In Ückendorf gibt es so beachtliche Potenziale – es wäre einfach sträflich, sie brachliegen zu lassen! Und darum sage ich: Sich über einen bestimmten Zeitraum auf dieses Stadtquartier zu konzentrieren, das ist der richtige Weg! Wir haben hier eine Entwicklung in Gang gesetzt, die Kreise ziehen wird, die engagierte Menschen und Unternehmen einlädt, mitzumachen; die sich künftig selbst tragen kann. Und das ist es, was wir wollen, was wir als Stadt können: Impulse setzen.
Die Bochumer Straße muss uns diesen Versuch wert sein. Heilig Kreuz muss es wert sein. Darum haben wir vorgestern den Baubeginn gestartet. Und wer mit dabei war, der wird vermutlich das Gleiche gespürt haben wie ich: Das ist ein besonderer Ort, und es wird ein Genuss sein, in Zukunft dort zu Veranstaltungen zu gehen!
Dieses Gebäude wird, wenn es eröffnet ist, auf das Umfeld wirken. Und auch das Umfeld entwickelt sich, es wird geprägt von Anfängen, mit dem Skater-Laden, dem Subversiv, der Galeriemeile, den dorthin ziehenden Studenten – dem Places-Festival. Dem einzigen deutschen Festival für Virtual Reality übrigens. Ja, ein solches Festival, das gibt es – man möchte es fast singen – nur in Gelsenkirchen!
Nun mögen das kleine Pflänzchen sein, Anfänge eben – aber die sind ja unser Thema. Anfänge sehen nun mal so aus. Erst später werden sie groß und wuchtig – dann muss man sich dran erinnern, dass sie mal eine Blümchen-Schau waren…
Ein ehrlicher Blick auf den Arbeitsmarkt
Wenn Sie mögen, können wir das Bild gerne etwas größer ziehen. Dann sehen wir eine Wirtschaft, die an vielen Stellen eine bemerkenswerte Entwicklung nimmt. Nehmen wir das Beispiel ZF: Im Sommer sah es duster aus, man fühlte sich mit den Kundgebungen auf der Kurt-Schumacher-Straße an schwere Zeiten erinnert. Aber der Einsatz für das Werk hatte Erfolg: ZF macht weiter in Schalke. Und nun geht es nicht allein um Erhalt, sondern um mehr – um eine qualitative Aufwertung zu einem Entwicklungsstandort!
Dazu haben wir eine starke Entwicklung in der Gesundheitswirtschaft, wir haben mehrere substanzielle Neu-Ansiedlungen von Industrieunternehmen, von Bilstein, von Bleistahl und Pilkington – Ansiedlungen, die alle ein Beschäftigungsvolumen von mehreren hundert Stellen haben.
Und darum muss ich sagen: Nein, es fehlt uns nicht an guten Nachrichten, ganz sicher nicht! Doch ich muss und will noch etwas hinzufügen, was wichtig ist: So wertvoll Ansiedlungen sind, so sehr wir uns für sie ins Zeug legen – und das tun wir, machen Sie sich da keine Sorgen! – wir sollten uns über ihre Effekte keinen Illusionen hingeben. Es wird kein weißer Ritter kommen und uns mit einem Schlag die Arbeitslosigkeit halbieren! Das wird nicht passieren. Und das liegt nicht mal daran, dass es da draußen zu wenige weiße Ritter gibt...
Nein, es liegt genauso an den Besonderheiten unseres lokalen Arbeitsmarktes. Denn wenn man sich den genauer anschaut, dann sieht man: Die weit überwiegende Mehrheit der Erwerbslosen in Gelsenkirchen ist schon länger ohne Job. Nur ein relativ kleiner Anteil bezieht Arbeitslosengeld I. Diese Quote lag im Dezember bei 2,4 Prozent – vergleichsweise bescheiden, wenn Sie mich fragen. Und 2,4 Prozent – das ist dann, realistisch gesehen, das Reservoir an Arbeitssuchenden, die relativ zügig auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Das sind diejenigen, die in erster Linie von Ansiedlungen profitieren könnten.
Wer ehrlich ist, muss zugeben: So furchtbar viele sind das nicht mehr. Das anzuerkennen, schützt vor falschen Erwartungen. Und es bestätigt eine andere Einsicht: Die übrigen Erwerbslosen, die Menschen in verfestigter Arbeitslosigkeit, für die ist etwas anderes wichtiger. Sie brauchen ein anderes Angebot. Eben darum ist das Thema Sozialer Arbeitsmarkt so wichtig.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr so genau, wie vielen Arbeitsministern in Land und Bund ich über die Jahre vorgetragen habe, dass Erwerbslose in Gelsenkirchen mehr, andere, vor allem intensivere Unterstützung brauchen als Menschen ohne Arbeit in Ingolstadt. Lange bestand die Reaktion aus Nicken, freundlichen, unverbindlichen Worten. Ich gebe gern zu, dass ich mir dann oft vorkam wie auf einem gerade stillgelegten Zechenareal – im verregneten Sommer. Nicht eben hoffnungsfroh.
Trotzdem habe ich das immer wieder getan, gemeinsam mit anderen. Warum? Weil ich überzeugt bin, dass alle, wirklich alle Menschen in unserer Stadt es verdient haben, im Leben eine echte Chance zu bekommen – und notfalls auch eine zweite!
Und ich habe es auch deshalb getan, weil ich aufgrund des Gelsenkirchener Appells wusste, dass Sie, meine Damen und Herren, dass die Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener dieses Engagement mittragen! Und als sich dann bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin im vergangenen Jahr eine Tür öffnete, dann haben wir unsere Chance ergriffen! Darum wird es nun einen Sozialen Arbeitsmarkt geben!
Wobei auch klar ist: Diesen gut zu gestalten, wird ebenfalls eine Herausforderung. Er wird nicht über Nacht Wirkung zeigen; nicht jeder Langzeitarbeitslose wird von jetzt auf gleich sein Leben umkrempeln. Aber entscheidend ist doch: Wir schaffen Angebote, wir schaffen Lebenschancen für Menschen, denen viel zu lange welche vorenthalten wurden! Und das ist ohne Frage alle Mühen und allen Einsatz wert!
Talentförderung, von der Kita bis zur Emscher-Uni
Meine Damen und Herren,
wir dürfen festhalten: Wir haben über die Jahre etliche positive Entwicklungen auf den Weg gebracht. Und die werden weitergehen, sie werden sich gegenseitig verstärken. Dazu gehört, na klar, auch Bildung. Kein Neujahrsempfang ohne einen Satz zur Bildung! Ich mache es kurz: Natürlich gehört gute Bildung zu unserem Wirtschaftsmodell für die Zeit nach der Kohle. Sie ist nicht wegzudenken, sie ist ein unverzichtbarer Baustein, die Basis. Genauso wie die Talentförderung, ein Exportschlager aus Gelsenkirchen. Und die Digitalisierung.
Über Jahre haben wir – hat Gelsen-Net – das Glasfasernetz in unserer Stadt ausgebaut, als langfristige Strategie für die Zeit nach der Kohle. Und das schon zu einer Zeit, als viele noch fragten: Müssen wir den Aufwand betreiben? Können wir das nicht einfach den großen Anbietern überlassen? Aber auch das war ein wichtiger Anfang. Und jetzt zeichnen sich die Früchte dieser Arbeit ab: Unser Glasfaser-Netz ist die Grundlage für unsere Vorreiterrolle in der Digitalisierung!
Im vergangenen Jahr haben wir Ihnen ja das Konzept der Vernetzten Stadt vorgestellt. Der eine oder andere hat da möglicherweise gedacht: Klingt nicht schlecht, aber richtig greifbar ist es noch nicht. Darum will ich gerne erwähnen, was sich seitdem zugetragen hat: Gelsenkirchen ist 2018 gleich zweimal zur Modellstadt ernannt worden. Zum einen sind wir digitale Leitkommune NRW, zum anderen Fellow City bei der Digital Cities Challenge der EU!
Und das sind nicht nur schöne Titel, es wird auch konkret: Wir haben kurz vor Weihnachten einen Förderbescheid des Landes von 4,3 Millionen Euro erhalten, für die Entwicklung der Bürger-ID – eines Authentifizierungsverfahren, das ermöglichen soll, dass Bürger-Verwaltung-Kontakte über das Smartphone sicher abgewickelt werden können. Und dieses Zukunfts-Projekt entsteht nicht irgendwo, sondern hier in Gelsenkirchen!
Wir sind in Gelsenkirchen bei diesem Thema vorne mit dabei – so, wie wir das auch schon bei anderen Themen waren und sind, bei der intelligenten Stadterneuerung etwa oder der frühen Bildung. Allerdings darf man auch sagen: Noch häufiger wären wir es wohl, wenn es in Gelsenkirchen etwas gäbe, was es geben müsste: eine eigene Universität!
Denn erinnern wir uns: Die Ruhr-Universität war in den 1960er die Antwort auf die ersten Zechen-Schließungen und den Strukturwandel, der von Süd nach Nord gezogen ist. Unis gibt es bis heute nur im südlichen Ruhrgebiet, auch deshalb gibt es bis heute ein Ruhrgebiet der zwei Geschwindigkeiten. Und dieses Problem muss man irgendwann einmal anpacken – und man sollte es erst recht dann tun, wenn eine Landesregierung mit der Ruhrkonferenz einen neuen, großen Aufschlag für die Region beabsichtigt! Und wenn ich dann noch höre, dass auch für die Braunkohle-Regionen Kompensationen gefordert werden, obwohl in Aachen eine starke Universität ansässig ist – dann sage ich: Es ist an der Zeit, bei uns etwas zu tun. Es ist an der Zeit für eine echte Lösung, die uns noch einmal Schubkraft verleihen kann – es wird Zeit für eine Universität an der Emscher!
Nun können wir uns gerne darüber austauschen, wie realistisch eine solche Ansiedlung ist – auch in Anbetracht dessen, dass wir eine hervorragende Fachhochschule haben. Aber ich habe es schon mehrfach gesagt: Vieles von dem, was zu Erfolgen wurde, war zunächst nur ein unrealistischer Gedanke. Ein Blümchen. Ein Appell ohne Zuhörer. Vieles ist eine Frage von Geduld, Beharrlichkeit, Mut. Von Zutrauen in Anfänge.
Und selbst wenn es in absehbarer Zukunft nicht zur Gründung von Universitäten in unserem Bundesland kommen sollte, dann kann ich Ihnen versprechen, dass wir uns in Zukunft mit Nachdruck dafür einsetzen, dass ein außeruniversitäres Institut, ein Leibniz-, ein Max-Planck-, ein Helmholtz- oder ein Fraunhofer-Institut nach Gelsenkirchen kommt! Ihre Unterstützung dabei wäre höchst willkommen.
Wir haben, was andere nicht haben
Meine Damen und Herren,
das vergangene Jahr endete mit viel Rückschau, und oft wurde auch die bange Frage gestellt: Was bleibt nach der Kohle? Ich meine: Ob nun die Emscher-Uni kommt oder ob wir noch auf sie warten müssen – wir haben Antworten.
Wir dürfen uns selbstbewusst hinstellen und sagen: Wir in Gelsenkirchen haben zu Beginn des Jahres 2019 echte Stärken – und zwar solche, die andere Städte und Regionen nicht haben. Die sie teilweise sogar schmerzlich vermissen.
Der ländliche Raum, so idyllisch er erscheinen mag, hat kaum Autobahn- und Zugverbindungen – und nur langsames, quälend langsames Internet. Was inzwischen fast noch schlimmer ist, nicht nur für 14-Jährige, auch für Unternehmen.
Auf der anderen Seite leiden viele Großstädte in Deutschland – gerade die wohlhabenden in unserer Nähe, in der Rheinschiene etwa – unter ihrem Erfolg. Sie leiden darunter, dass die Mieten steigen, die Räume eng werden, dass junge Familien sich kaum mehr eine Wohnung leisten können, dass die soziale Mischung verloren geht. Sie leiden darunter, dass Freiräume für Neues, für Anfänge verloren gehen. Für das, was Städte eigentlich ausmacht.
Das Ruhrgebiet hingegen hat beides. Wir haben die Infrastruktur, die Potenziale, die schönen Ecken. Und wir haben die Freiräume, wo Menschen Dinge ausprobieren und Potenziale entwickeln können. Wo Anfänge möglich sind. Und das ist ein Faktor, der sich in den nächsten Jahren sehr stark auswirken wird!
Er wird sich auswirken, denn es gibt da ja noch etwas – und das kennen Sie sehr gut. Es ist etwas Einfaches, aber Wichtiges. Und vermutlich haben all jene Recht, die sagen, dass es ein Erbe aus dem Bergbau ist. Man steht zusammen in Gelsenkirchen. Wir stehen zusammen, wenn uns der Wind ins Gesicht bläst. Aber nicht nur dann.
Der Gelsenkirchener Konsens
Wir Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener stehen zusammen, weil wir alle hier leben und arbeiten, und weil uns allen bewusst ist, Ihnen genauso wie Ihrem Sitznachbarn, dass wir hier besser leben und arbeiten, wenn es dem Standort insgesamt gut geht. Nennen wir es beim Namen, auch wenn manche diesen Begriff scheuen: Es gibt so etwas wie einen Gelsenkirchener Konsens. Ich weiß, dass einige ganz wenige diesen Begriff nicht mögen; diesen sei aber gesagt, dass dieser tatsächlich vorhandene stadtgesellschaftliche Konsens nicht für die politische Auseinandersetzung taugt. Eine Einigkeit über wichtige Fragen, die das Zusammenleben in dieser Stadt angeht.
Das zeigt sich nicht zuletzt in der Wirtschaft. Das zeigt sich, wenn man sieht, wie spontan Unternehmen für ihren Standort Position beziehen. Als die Stadt nach Testimonials für eine Standortkampagne gesucht hat, musste keine Managerin, kein Unternehmer zweimal gefragt werden. Alle waren sofort bereit, Gelsenkirchen ihr Gesicht zu geben
Dieser Konsens zeigt sich beim Gelsenkirchener Appell, den ein breites Bündnis getragen hat – und wo niemand gesagt hat: Sind doch nicht meine Arbeitslosen!
Dieser Konsens zeigte sich beim Zuspruch für die ZF-Beschäftigten, aus anderen Unternehmen, aus der Politik, von vielen gesellschaftlichen Gruppen, aus der ganzen Stadt. Keinem war egal, was aus dem ZF-Werk wird!
Dieser Konsens zeigt sich, wenn Unternehmen bei der Berufsausbildung zusammenarbeiten, wenn Betriebe das Joblinge-Projekt unterstützen, finanziell wie materiell, wenn sie jungen Menschen Praktika ermöglichen. Es zeigt sich, wenn Stiftungen bei Bildungsprojekten tätig werden; wenn Unternehmen Flüchtlinge verpflegen oder Beschäftigte für ehrenamtliches Engagement freistellen.
Und es zeigt sich, wenn ein Familienunternehmen zuerst in sein Ladenlokal unweit der Hochstraße investiert, dann aber ebenso aktiv wird, um das Umfeld seines Geschäftes zu stärken. Weil es weiß, dass es auch die anderen braucht. Weil das Umfeld wichtig ist. Weil niemand gegen seinen Standort Erfolg hat. Weil wir alle, Sie und ich, an diesem Standort nur gemeinsam Erfolg haben können – und wir diesen Standort gemeinsam gestalten können!
Das ist der Gelsenkirchener Konsens, der von vielen – ich glaube, von den meisten geteilt und gelebt wird. Und das ist ein Grund, warum mir um die Zukunft Gelsenkirchens nicht bange ist. Schon gar nicht 2019, im Jahr der Anfänge.
Denn es gilt ja weiterhin: Berge versetzen hat bei uns Tradition!
Ich wünsche uns allen, dass wir etwas Gutes daraus machen. Ihnen allen und der Stadt Gelsenkirchen ein herzliches Glückauf!