Vor 40 Jahren: Volkshochschule an der Seite der Heinze-Frauen
Ein Meilenstein in der hundertjährigen Geschichte der Gelsenkirchener Volkshochschule
19. Dezember 2019, 08:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
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Dr. Marianne Kaiser hat ihren Nachlass über die Heinze-Frauen dem Institut für Stadtgeschichte übergeben.
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Das Buch "Wir wollen gleiche Löhne" dokumentiert den Kampf der Heinze-Frauen.
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Aufkleber zu den Aktionen der Heinze-Frauen und der Unterstützerinnen und Unterstützer.
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Proben für Theaterstück "Frauen sind keine Heinzelmänner", das in Gelsenkirchen uraufgeführt wurde.
Bildrechte: Alfons Kampert (Nachlass Institut für Stadtgeschichte)
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Eine Besucherkarte zum Prozess der Heinze-Frauen vor dem Bundesarbeitsgericht gehört ebenfalls zum Nachlass von Dr. Kaiser.
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Bei der Siegesfeier nach dem gewonnenen Prozess herrschte eine ausgelassene Stimmung.
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Dr. Marianne Kaiser (links) freut sich mit Erika Huch von den Heinze-Frauen.
Bildrechte: IG Druck und Papier
In diesem Jahr ist die Volkshochschule (VHS) Gelsenkirchen 100 Jahre alt geworden. Zu ihrer Geschichte zählt die Unterstützung der Heinze-Frauen in ihrem Kampf für Lohngerechtigkeit.
Als die Arbeitnehmerinnen der Heinze Fotobetriebe in Gelsenkirchen 1978 herausfanden, dass ihre männlichen Kollegen für die gleiche Arbeit eine außertarifliche Zulage von 1,50 DM erhielten, begannen sie, da die Firma nicht einlenkte, 1979 ihren Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 29 von ihnen gingen mit einer Sammelklage in Gelsenkirchen vor Gericht, und im Jahr 1981 errangen sie vor dem Bundesarbeitsgericht Kassel einen bundesweit beachteten Erfolg. Das Gericht gab ihnen Recht.
Dr. Marianne Kaiser hat fast 30 Jahre an der Volkshochschule (VHS) Gelsenkirchen bis zum Jahr 2000 als Leiterin des Fachbereichs „Gesellschaft, Politik“ gearbeitet. Die Heinze-Frauen hat sie sowohl mit Angeboten im Rahmen von „Arbeit und Leben (DGB/VHS) in der VHS als auch mit ihrem ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Engagement unterstützt. Noch heute bekommt Dr. Kaiser immer wieder Anfragen zum Thema Heinze-Frauen. Auch die Stadtzeitung GELSENKIRCHEN hat nachgefragt.
Frau Dr. Kaiser, welche Bedeutung hatte damals der Kampf der Heinze-Frauen?
Um das einordnen zu können, muss man sich die 1970er Jahre vergegenwärtigen.
Die traditionelle Frauenbewegung, der ich mich als Gewerkschafterin zugehörig fühlte und fühle, kämpfte schon seit Jahrzehnten in Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen für die Rechte und Interessen der Frauen. Sie hatte zwar 1949 erreicht, dass die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankert wurde, aber Arbeitnehmerinnen waren weiter benachteiligt und in Deutschland wurde erst 1977 endlich per Gesetz die sogenannte Hausfrauenehe durch die partnerschaftliche Ehe abgelöst Das heißt, dass erst seitdem nun beide für den Familienunterhalt verantwortlich und beide berechtigt sind, berufstätig zu sein. Schon zuvor hatte der DGB 1972 das „Jahr der Arbeitnehmerin“ ausgerufen und die Vereinten Nationen 1975 das „Internationale Jahr der Frau“. Das geschah in Wechselwirkung mit zahllosen Aktionen und neuen Protestformen der Neuen Frauenbewegung, die seit Ende der 60er Jahre gegen patriarchale Strukturen, Männerzentriertheit und Sexismus mit Frauen-Power mobilisierte und in den 70-er Jahren auch das Ruhrgebiet erreichte.
Das war das Klima, in dem die Nachricht, dass Frauen mit der Unterstützung ihrer Gewerkschaft IG Druck und Papier gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht um gleichen Lohn für gleiche Arbeit stritten, eine Welle der Solidarität in Gelsenkirchen und weit über die Stadtgrenze hinaus auslöste. In einem Demonstrationszug zum Arbeitsgericht Gelsenkirchen solidarisierten sich 1979 über 200 Menschen mit den Heinze-Frauen, die mit ihrer Klage durchkamen. Die Firma Heinze legte Widerspruch beim Landesarbeitsgericht Hamm ein und das entschied im Sinne der Firma. Aber bei diesem Urteil wurde wiederum den Frauen erlaubt, die Revision am Bundesarbeitsgericht zu beantragen. Und so entschlossen sich die 29 Frauen, vor das Bundesarbeitsgericht Kassel zu ziehen, wo sie dann 1981 abschließend Recht bekamen. Einige Tage vor dieser Verhandlung hatte in Kassel eine große gewerkschaftliche Solidaritätskundgebung stattgefunden, an der rund 5000 Menschen beteiligt waren.
Zwischen dem Urteil in Hamm und dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts sind zwei Jahre vergangen.
Ja, zwei Jahre, in denen die Aufmerksamkeit für die Klage erhalten und die Frauen unterstützt werden mussten. In Zusammenarbeit mit der Protestsängerin Fasia Jansen machten die Frauen das noch heute bekannte Protestlied „Keiner schiebt uns weg!“ zu ihrem Lied. Im Auftrag der Ruhrfestspiele erarbeitete eine Theatergruppe basierend auf den Berichten der Heinze-Frauen das Stück „Frauen sind keine Heinzelmänner“ in einem komödiantischen Stil. Nach der Vorpremiere in Gelsenkirchen-Bismarck wurde es am 1. Mai 1980 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen aufgeführt und ging danach mit rund 30 Aufführungen deutschlandweit auf Tournee. Bei dieser Aufführung am 1. Mai wurde den Heinze-Frauen eine Unterstützungsliste mit 45.000 Unterschriften übergeben. Darunter war unter anderen auch die Unterschrift der damaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Annemarie Renger. Zusammengetragen hatten die Unterschriften Frauen in Gewerkschaften, Parteien und den verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung. Betriebsrätinnen wurden in der ganzen Republik als Referentinnen in eigener Sache von Frauengruppen eingeladen.
Welche Rolle hatte die VHS bei alledem?
Als Gewerkschafterin solidarisierte ich mich persönlich mit den Heinze-Frauen. Als VHS-Mitarbeiterin bot ich ihnen und anderen Interessierten die Möglichkeit zur Reflexion der Geschehnisse. Zum Beispiel mit Seminaren zur Geschichte des Kampfes um Gleichberechtigung oder mit der Frage, warum ein Gericht anders urteilen konnte als das andere. Vor allem aber ging es um die Reflexion des eigenen Handelns, darum, den Kampf für gleiche Löhne und die dabei gemachten Erfahrungen festzuhalten und zu diskutieren. Die Tonbandmitschnitte dieser Diskussionen wurden dann wesentlicher Bestandteil des Buches „Wir wollen gleiche Löhne“, das ich in Absprache mit den Frauen 1980 herausgegeben habe.
Gibt es etwas, dass Ihnen aus der damaligen Zeit besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Ich fand es beeindruckend, wie die Frauen sich nicht haben unterkriegen lassen, in ihrem Kampf wuchsen und an Selbstbewusstsein gewannen. Diese Erfahrung konnte und kann ihnen niemand nehmen, das ist, wie sie selbst sagten, zum Teil ihrer Persönlichkeit, ihrer Emanzipation geworden. Und ich freue mich, dass die VHS mit „Arbeit und Leben“ ihren Beitrag dazu leisten konnte. Außerdem finde ich es wichtig festzuhalten, dass dieser Prozess dazu beitrug, dass die traditionelle und die Neue Frauenbewegung in Gelsenkirchen und wahrscheinlich auch anderswo Berührungspunkte entdeckten, Kontakte ausbauten und Solidarität herrschte. Auch für die Frauen der Neuen Frauenbewegung war der Kampf der Heinze-Frauen und ihr Erfolg ein Meilenstein.
Sie bekommen ja heute noch, 40 Jahre danach, immer wieder Anfragen zu den Heinze-Frauen. Im Jahr 2018 lief in der ARD der Film „Keiner schiebt uns weg!“ über die Heinze-Frauen. Waren Sie auch daran beteiligt?
Ja, der Regisseur interviewte mich, schickte mir das Drehbuch und fragte nach meiner Einschätzung. Obwohl er mir sagte, dass es ein Spielfilm erfordern würde, einzelne fiktive Personen in den Mittelpunkt zu rücken und auch deren private familiäre Situation breit darzustellen, war es in meinen Augen eine Verfälschung der Ereignisse, dass die Gewerkschaften überhaupt nicht und die Solidaritätsbewegung kaum darin vorkamen. Es erinnerte mich zu sehr an den Film über die amerikanische Umweltaktivistin und Einzelkämpferin Erin Brockovich, die als heroische Ikone dargestellt wurde. Das wäre den Heinze-Frauen mit ihrem gemeinsamen Kampf und der breiten Unterstützung, die sie erfahren haben, nicht gerecht geworden. Diese Kritik wurde in der endgültigen Fassung partiell berücksichtigt. So ist es ein spannender Film geworden, der nicht nur die Erinnerung an die Heinze-Frauen wachhält, sondern hoffentlich dazu beiträgt, zu verdeutlichen, dass es ja auch heute längst noch nicht überall den gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt und Zusammenhalt unter Frauen bei solchen und anderen Auseinandersetzungen um Rechte notwendig ist.
Die Frage der Lohngerechtigkeit und andere Fragen aus der Arbeitswelt wurden und werden im Rahmen von „Arbeit und Leben“ immer wieder in VHS-Angeboten thematisiert. Aber auch andere Themen aus der Frauenbewegung hatten Sie in der VHS-Arbeit aufgegriffen. Welche zum Beispiel?
Beispielhaft möchte ich Bücher nennen, die ebenfalls aus VHS-Seminaren hervorgegangen sind. In dem Buch „Von Hexen, Engel und anderen Kämpferinnen“ sind Stadtrundgänge aus Frauensicht zusammengetragen worden. Frauen, die kirchlich engagiert sind, wirkten daran ebenso mit wie gewerkschaftlich und politisch organisierte Frauen oder in der Neuen Frauenbewegung Engagierte.
Diese Publikation baute auf einer Broschüre auf, die früher entstanden war. In der VHS hatten wir seit von 1989 bis 1992 in einer Frauengeschichtswerkstatt Dokumente zur Geschichte der Frauen in Gelsenkirchen zusammengetragen, die 1992 unter dem Titel „Keine Geschichte ohne Frauen“ veröffentlicht wurden. Bei diesen und anderen Projekten arbeitete die VHS eng mit dem Frauenbüro zusammen.
Die VHS bot interessierten Frauen ein Forum, um zusammenzukommen, sich auszutauschen und an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Das geschah auch jahrelang in den 90er Jahren anlässlich des Internationalen Frauentags, wiederum in enger Zusammenarbeit mit dem Frauenbüro.
In meiner begleitenden Bildungsarbeit der 80er/90er Jahre war auch der sonst kaum beachtete Niedergang der Bekleidungsindustrie, einer in Gelsenkirchen wichtigen Branche mit vielen Frauenarbeitsplätzen, Thema von Seminaren. Ebenso die Konflikte um den Schalker Verein, bei denen auch die Ehefrauen einbezogen waren. Aus diesen Zusammenhängen sind dann nach meinem Ausscheiden zwei Bücher entstanden, die die Erinnerung an diese Ereignisse festhalten.
Frau Dr. Kaiser, kommen wir noch einmal zurück zu den Heinze-Frauen. Wir haben das Gespräch in den Räumen des Instituts für Stadtgeschichte geführt, bei dem Sie all Ihre Unterlagen, von Zeitungsbeiträgen über Fotos bis hin zu Filmen über die bewegte Geschichte einstellen. Warum?
Weil hier das Gedächtnis der Stadt ist. Hier wird mein Material gesichtet, archiviert, konserviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hier können Interessierte nachfragen und bekommen Informationen. Es würde mich freuen, wenn das Interesse an dem exemplarischen Prozess der Heinze-Frauen noch lange anhält. Denn, wie gesagt, gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit, dieses Recht ist längst noch nicht durchgesetzt.