"Wir müssen auf unsere Demokratie achtgeben!"
Rede zum Neujahrsempfang der Stadt Gelsenkirchen 2020
17. Januar 2020, 20:30 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbrügermeister Frank Baranowski Neujahrsempfang der Stadt am 17. Januar 2020
- Es gilt das gesprochene Wort ! -
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener,
ich begrüße Sie ganz herzlich – zum Neujahrsempfang der Stadt Gelsenkirchen 2020, zu unserem Neujahrsempfang im Musiktheater im Revier, im seit nunmehr 60 Jahren schönsten Opernhaus weit und breit!
Ich freue mich sehr, dass Sie mit dabei sind – beim ersten Neujahrsempfang im neuen Jahrzehnt! Zu einem Datum, das eine Zäsur markiert. In diesem Jahr wird sich vieles ändern – in der Welt und in Gelsenkirchen.
Wir veranstalten – ein erstes Beispiel für Ungewohntes – unseren Neujahrsempfang an einem Abend, an dem auch Schalke spielt. Ja, auch bei sorgfältiger Planung kann so etwas passieren. Darum: Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie heute meiner Einladung gefolgt sind!
Und dass Sie das getan haben, legt nahe, dass es Ihnen ähnlich geht wie mir. Dass auch für Sie dieser Abend ein besonderer ist. Vielleicht noch ein bisschen „besonderer“ als ein Heimspiel in der Arena. Dafür spricht, dass mehr als die Hälfte der heutigen Gäste ihre Zusage mit einem Statement zugunsten ihrer Heimatstadt verbunden haben – ein paar dieser Statements zeigen wir auf den Bildschirmen im Foyer und im Eingangsbereich. Weil es eben unsere Stadt ist.
Und dafür spricht, dass dies der eine Abend im Jahr, an dem man – wie sonst nie – so viele Menschen trifft, die sich in dieser und für diese Stadt engagieren. Sie alle hier im Raum leisten ja etwas für unser Gelsenkirchen, ob als gewählter Mandatsträger, durch Ihr Wirken in einem Unternehmen, in einer Forschungs- oder Bildungseinrichtung, in Glaubensgemeinschaften, sozialen Initiativen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Sport, Kultur – an so vielen Stellen. Deshalb haben wir Sie eingeladen, und deshalb freue ich mich, dass Sie da sind!
Und wer schon einmal mit dabei war, weiß, was nun passiert: Ich möchte zwei Personenkreise besonders begrüßen. Zum einen unsere Sponsoren, die ELE, die diesen Abend möglich macht, wofür ich den Vertreterinnen und Vertretern des Unternehmens ganz herzlichen Dank sagen möchte!
Und noch einen weiteren Dank gilt es auszusprechen: Es gibt einen weiteren Sponsor, ein Unternehmen, das aufgrund unserer Anfrage eine schöne Spende an unsere Ehrenamtsagentur getätigt hat, das selbst nicht in Erscheinung treten will, aber der Ehrenamtsagentur Gelsenkirchen dafür ermöglicht, sich zu präsentieren. „Ganz herzlichen Dank!“ den Verantwortlichen dieses Unternehmens, die heute Abend anwesend sind!
Und besonders begrüßen will ich die besten Absolventinnen und Absolventen der Gelsenkirchener Schulen und Hochschulen im vergangenen Jahr – junge Frauen und Männer, die die 2020er-Jahre ganz sicher mitprägen werden.
Und wenn Sie, meine Damen und Herren, genauso wie ich finden, dass die besonderen Leistungen aus 2019 auch noch in 2020 einen Applaus wert sind, dann richten Sie ihn gerne an den Ersten Rang!
Ja, meine Damen und Herren: Viele Dinge werden in diesem Jahr anders werden, werden Ihr Leben verändern, werden mein Leben verändern.
Manches aber bleibt. Zum Beispiel – und davon bin ich ganz fest überzeugt, trotz all der großen und scheinbar übermächtigen Trends: Wir werden auch 2020 und darüber hinaus in der Welt leben, die wir selbst mit geschaffen haben, Sie und ich. In einer Welt, die von unserem Tun, Handeln, Reden zumindest mitbestimmt wird. In einer Welt, für die wir Verantwortung tragen und deren Zukunft auch in unseren Händen liegt.
Wir wollen deshalb heute Abend ein paar Menschen vorstellen und im Film und auf der Bühne zu Wort kommen lassen, die das sehr bewusst und gezielt tun. Die anteilnehmen. Die Verantwortung tragen. Die andere unterstützen. Deshalb haben wir, auch das ist neu, in diesem Jahr keinen Gastredner, keine Experten, keine Wissenschaftler und Prominenten eingeladen. Die Bühne soll heute ganz den Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern gehören! Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, die sich nicht von Berufs oder Amts wegen auszeichnen, sondern durch ihren persönlichen Beitrag, durch ihren ganz und gar freiwilligen Beitrag zu unserem Zusammenleben! Und die sich auch dadurch auszeichnen, dass sie sich sehr klar zu ihrem Gelsenkirchen bekennen. Dass sie hier ihren Anker gesetzt haben.
Und weil einem diese Klarheit in diesen Zeiten als etwas Besonderes vorkommt, will ich den heutigen Abend mit einer Frage eröffnen, die ich mir in diesen Tagen etwas häufiger stelle, die mich auch über den Tag hinaus beschäftigt, weil die richtige Antwort vermutlich viel über unsere Gegenwart und Zukunft aussagt. Die Frage lautet: Ist das tatsächlich so und muss es so sein, dass es uns heute, zu Beginn des Jahres 2020, besonders schwerfällt, schwerer als den Generationen vor uns, sich zu konzentrieren, einen Schwerpunkt für unser Leben und unser Tun zu finden, sich zu engagieren, sich selbst und andere für Etwas zu begeistern?
Wir leben ja in einer Zeit mit einer unglaublichen Flut an Informationen, an Ablenkungen, die alle jetzt direkt zur Verfügung stehen und sofort unsere Aufmerksamkeit verlangen. Ablenkungen, die es schwermachen, sich zu fokussieren, sich auf etwas Wesentliches zu besinnen. Ständig werden wir aufgefordert, uns mit anderen zu vergleichen und an uns selbst, an unserer Lebensweise und Performance zu arbeiten. Was übrigens oft nichts anderes heißt, als sich anderen anzupassen.
Diesen Drang kennen die meisten von uns, ob wir das zugeben wollen oder nicht. Und viele stresst das. Junge Menschen, Menschen in der Findungsphase am meisten, aber auch Ältere – und mittlerweile sogar ganze Städte. Wir alle kennen die Neigung, unsere Stadt mit anderen Städten zu vergleichen und den Hang dazu, unsere Stadt in vermeintlich wissenschaftlich fundierten Städterankings zu suchen. Gelsenkirchen sieht nicht aus wie andere Städte, sieht nicht aus wie Münster oder München – das stimmt. Aber ist das schlimm? Oder gar neu?
Kennen wir unsere Stadt gut genug?
Und doch kennen wir alle die Klage – vielleicht ist es uns sogar schon mal selbst rausgerutscht –, dass unsere Stadt nicht mehr das ist, was sie mal war. Dass die Bahnhofsstraße nicht mehr die Einkaufsstraße ist, die sie in den 70ern Jahren noch war. Dass die Fachgeschäfte fehlen. Und das stimmt natürlich. Aber haben die Veränderungen nicht auch etwas mit uns selbst zu tun? Mit dem geänderten Einkaufsverhalten von uns allen, den rasant ansteigenden Verkaufszahlen im Online-Handel, dem dramatischen Wandel des Einzelhandels im ganzen Land? Das ist doch kein Gelsenkirchener Alleinstellungsmerkmal!
Übrigens, genau auf dieser Straße, auf der Bahnhofstraße, hatte ich vor wenigen Wochen ein interessantes Erlebnis. Der Anlass war zugegeben kein alltäglicher: Der Bundespräsident war in Gelsenkirchen zu Gast, ein Mann also, der viel durch Deutschland reist, der als Außenminister auch ein paar Städte außerhalb unseres Landes kennengelernt hat. Und was sagt er, als er bei uns auf der Bahnhofsstraße steht – umgeben von den Buden auf dem Weihnachtsmarkt?
Nun, er sagt nicht: „Wieso sieht es hier nicht aus wie in Münster? Oder Madrid?“ Nein, er sagt: „Ist doch ganz schön hier. Es sieht hier doch ganz anders aus, als die Leute sich das von Berlin aus vorstellen! Viel besser!“
Tja, hätten Sie das erwartet? Sicher war da ein Stück Höflichkeit dabei, was denn sonst. Aber ich kenne Frank-Walter Steinmeier – übrigens bekennender Schalke-Fan – schon lange genug, so dass ich behaupte: Das meint er dann auch so! Und wenn er das nicht so meinen würde, würde er es nicht so sagen!
Darum meine Bitte: Nehmen wir den Eindruck von außen mal an. Sehen wir ruhig mal das Gute in der eigenen Heimat. Und lassen Sie uns mal häufiger trennen: Was an der Entwicklung unserer Stadt ist eigentlich spezifisch Gelsenkirchen? Was typisch Ruhrgebiet? Und was sind allgemeine Entwicklungen, die es überall gibt?
Ist es also sinnvoll, sich über unsere eigene Heimat zu beklagen – wenn wir uns dabei eigentlich über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beklagen? Muss Gelsenkirchen immer Projektionsfläche für allgemeine Unzufriedenheit sein? Und bedenken wir, was unser persönlicher Beitrag ist? Passt das eigentlich zusammen – sämtliche Weihnachtsgeschenke von Onlinehändlern anliefern zu lassen – und sich dann über die lokale Einkaufsmeile zu beklagen? Oder über prekäre Arbeitsbedingungen? Machen wir uns da nicht einen schlanken Fuß?
Wir leben ja in einer Zeit, die einem genau das sehr leicht macht – sich einen schlanken Fuß zu machen. Die es einem leicht macht, sich rauszuziehen. Wir leben in einer Zeit – und das fällt schon auf – des Rückzugs vieler Menschen aus dem öffentlichen Raum. Im guten Fall in ein Leben mit Netflix und Wellness, das sehr angenehm sein kann. Im schlechten Fall aber in ein Leben mit ständigem Dampfablassen – um es mal vornehm zu umschreiben – in den Filterblasen und Echokammern des Netzes. Denn das hängt ja zusammen: Wer sich selbst nicht kümmert, wer sich nicht engagiert, sich der Debatte entzieht – der kann ja immer noch anderen die Schuld geben!
Ja, der Rückzug in die eigenen vier Wände, in die Wohlfühloase, der hat Folgen. Wer Zuhause bleibt, der überlässt den anderen das Feld. Und wer das Leben draußen nicht kennt, der fürchtet sich schon mal davor. Wir haben das ja alle kürzlich vor Augen geführt bekommen: Die Menschen fürchten sich gerade dort vor geflüchteten Menschen, wo gar keine sind, wo keine oder nur wenige Ausländer leben.
Das war und ist bei uns in Gelsenkirchen anders – zum Glück. Aber wir sind keine komplett anderen Menschen. Darum noch so eine Frage zum Jahresbeginn, die auch wir Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener uns stellen dürfen: Sind wir eigentlich offen und neugierig genug? Diskutieren wir mit anderen, auch wenn sie nicht unserer Meinung sind? Achten wir genügend aufeinander? Gehen wir in unserer Stadt auch dahin, wo unsere Wege uns nicht automatisch hinführen?
Gut, ein paar Leute haben sich ja heute Abend über den Kanal getraut. Immerhin! Aber im Ernst: Sind wir wirklich neugierig genug auf das, was wir nicht kennen? Suchen wir die Begegnungen mit Menschen, die wir sonst nicht treffen? Lassen wir uns von dem, pardon, medialen Blödsinn beeindrucken, es gebe in Gelsenkirchen No-Go-Areas?
Wann waren Sie auf der Bochumer Straße und haben sich einen Eindruck von der Veränderung des Quartiers verschafft, von den enormen Fortschritten dort? Wissen diejenigen aus dem Gelsenkirchener Süden eigentlich, was sich in Buer alles getan hat in den vergangenen Jahren? Kaufen Sie auf dem Buerschen Markt ein? Und Hand aufs Herz: Wer weiß, was in der Lukaskirche in Hassel los ist? Wer hat sich den neuen Stadtteilpark auf dem Gelände der Kokerei Hassel schon angeschaut? Vielleicht eine Idee fürs Frühjahr…
Demokratie leben!
Ja, meine Damen und Herren, es ist so einfach und doch so wichtig: Wir sollten wissen, was sich vor unserer Tür, was sich in unserer Stadt tut! Denn wenn wir das nicht wissen und nicht wissen wollen, wenn wir uns einigeln, wenn wir immer nur im eigenen Wagen sitzen und nie in der Straßenbahn – dann dürfen wir uns nicht wundern, dass in unserer Gesellschaft das Gemeinsame schwindet!
Und wenn das Gemeinsame schwindet, dann haben wir – so ernsthaft ist es tatsächlich, da möchte ich nicht drum herum reden – dann haben wir ein Problem mit unserer Demokratie! Denn die lebt genau davon, von Gemeinsamkeiten.
Und glauben Sie mir: Das sage ich nicht leichtfertig. Es ist vielmehr eine zentrale Lektion aus meinem politischen Leben: Wir alle, Sie und ich, wir müssen auf unsere Demokratie achtgeben!
Wir müssen auf unsere Demokratie achtgeben, denn sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist ein kostbares Gut – und sie ist, wie so manches kostbare Gut, ein zerbrechliches Gut. Es gibt keine Garantie, dass sie in dieser Form weiter fortbesteht!
Nein, meine Damen und Herren, ich möchte die aktuelle Lage nicht dramatisieren. Aber eins muss ich leider doch sagen: Es gibt derzeit eine Krise der Demokratie. Und diese Krise haben weder Donald Trump noch Boris Johnson verursacht. Da würde man den beiden zu viel der Ehre antun. Es ist eher umgekehrt: Solche Figuren sind nur denkbar, weil sich gegenwärtig die Menschen an vielen Orten dieser Welt nicht der wahren Bedeutung der Demokratie bewusst sind. Und weil sie sie nicht bewusst leben!
Denn auch das ist für mich eine wichtige Lektion aus meinen Jahren im Amt des Oberbürgermeisters: Für unsere Demokratie ist es entscheidend, dass sie gelebt wird. Und wie wir sie leben. Dort, wo es um die vermeintlich große Politik geht, um die Entscheidungen in Berlin und Brüssel. Aber eben nicht nur dort. Nicht nur als Beobachter und Wähler, sondern mehr noch vor Ort, in den Städten, in unserem Lebensumfeld. Gerade hier ist die Demokratie greifbar. Hier trifft man seine gewählten Stadtverordneten samstagmorgens beim Bäcker, mittags beim Einkaufen. Hier hat jede Entscheidung direkten Einfluss auf das Leben aller Bürgerinnen und Bürger. Demokratie ist nicht nur das Kreuz auf dem Wahlzettel. Demokratie muss viel mehr sein – sonst ist sie keine!
Demokratie beginnt im Alltag. Bereits in dem Moment, in dem Sie Ihre Wohnung verlassen und auf andere Menschen treffen, mit ihnen respektvoll umgehen, gemeinsame Anliegen in gutem Einvernehmen klären – schon da praktizieren wir Demokratie. Und wir tun das noch mal ein Stück mehr in Vereinen, in Eigentümergemeinschaften, in Quartiersbeiräten, in Betriebs- und Personalräten, Elternbeiräten. Und auch das ist ein Beitrag zur Demokratie: ein Kind zur Mündigkeit zu erziehen – und dazu, mit anderen gut zusammenleben zu können!
Demokratie verlangt Aufmerksamkeit, sie verlangt oft auch Geduld – was bekanntlich unheimlich knappe Güter sind. Aber nur Likes zu verteilen – das ist zu wenig. Denn Demokratie ist kein Konsumgut.
Darum möchte ich gerne einen Grundsatz für das neue Jahr und sogar für das neue Jahrzehnt vorschlagen: Wir brauchen in der Tat wieder eine etwas stärkere und selbstbewusstere demokratische Haltung!
Wir brauchen diese Haltung, denn unsere Demokratie braucht uns. Wir sind, jeder Einzelne von uns, so sagt es die Autorin Juli Zeh sehr treffend, als Bürgerin und Bürger das Rückgrat der Demokratie –„sofern wir denn selbst ein Rückgrat besitzen.“ Genau das ist die Voraussetzung für unsere Demokratie: der Besitz eines Rückgrates. Gar nicht so viel eigentlich, oder? Gönnen wir uns also, das wäre mein Wunsch für die 2020er, gerne ein bisschen mehr Rückgrat – und zeigen das auch!
Kompromisse sind kein Zeichen von Schwäche
Dass wir das haben, dass Sie, meine Damen und Herren, das haben – daran habe ich keinen Zweifel. Die meisten von Ihnen haben das ja auch schon mit ihrem politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Handeln bewiesen, sonst wären Sie nicht hier!
Einstehen, wenn es nötig ist, auch in besonderen Situationen – das gehört mit dazu. Zum Beispiel wenn Rechtsradikale unter dem Deckmäntelchen vermeintlicher „Mütter gegen Gewalt“ eine Kundgebung bei uns durchführen wollen, wie das 2018 der Fall war – und die Stadtgesellschaft in ihrer gesamten Breite ein ganz klares Statement abgibt! Weil es nötig war. Und weil es wirkt! Die Zahlenverhältnisse waren klar, das Übergewicht der demokratischen Kräfte war unübersehbar!
Zur demokratischen Haltung gehört aber genauso der Alltag, gehört die Bereitschaft, im Alltag Verantwortung zu tragen – und im Privaten Stellung zu beziehen, wenn Grenzen überschritten werden. Man muss nicht jede Aussage so stehen lassen – nur um des lieben Friedens willen! Und dazu gehört noch etwas, was leider nicht so aufregend ist wie eine Demo, die ein großes Gemeinschaftsgefühl stiftet: Dazu gehört die Bereitschaft, die Position der Anderen anzuhören und zu akzeptieren, wenn sie denn die Grenzen des Anstands und der demokratischen Haltung nicht überschreitet – und dann auch das Verbindende zu suchen.
Dabei denke ich an die vielen von uns, die gerne mal sagen: Die Politik müsste mal! Die müsste jetzt sofort und mit einem Handstrich alle Debatten vom Tisch fegen und den großen Wurf hinlegen! Und die dabei vergessen: Die Politik, das sind nicht irgendwelche anderen Leute, die wir bezahlen. Das sind wir alle. Oder, wie Friedrich Dürrenmatt sagte: Was alle angeht, kann auch nur von allen gelöst werden!
Wenn aber fast alle beteiligt werden, dann kommt oft eine Lösung zustande, die eben nicht auf einen Bierdeckel passt. Die komplex ist. Die aber den Vorzug hat, dass sie niemandem übergestülpt wurde – was ich für eine große, eine ganz entscheidende – was ich für die entscheidende Qualität halte!
Die Wahrheit, die dahinter steht und leider zu selten verstanden wird, weil sie eben nicht in einen knackigen Tweet passt, ist folgende: Ein Kompromiss, der Ausgleich von Interessen oder der Konsens – das ist kein Zeichen von Schwäche!
Ganz im Gegenteil! Das ist eine elementare demokratische Tugend! Das ist eine wichtige Errungenschaft! Konsens erzielen, Kompromisse finden und für einen Ausgleich von verschiedenen Interessen zu sorgen, das ist eine ganz große Stärke – weil es nur so wirklich nachhaltige Lösungen geben kann!
Für meinen Geschmack fällt in diesem Kontext viel zu häufig die Formel des „Faulen Kompromisses“. Ein Begriff, der ausblendet, dass es auch den berechtigten Kompromiss gibt, der verschiedene Positionen aufnimmt, der alle Seiten respektvoll behandelt. Und ja, es kostet Zeit und Geduld, Dinge miteinander auszuhandeln und einen Konsens zu erzielen – das stimmt! Aber es steht ja auch etwas auf dem Spiel.
Unmittelbar dazu passt, dass zur Demokratie auch der gute Umgang miteinander gehört, der anständige Umgang mit dem politischen Kontrahenten. Doch auch da ändert sich leider etwas. Nicht nur im Netz sind die Sitten rauer geworden, auch im Bundestag, und auch in politischen Gremien hier in Gelsenkirchen hat in der aktuellen Wahlzeit die Zahl der Ordnungsrufe im Rat zu meinem Bedauern deutlich zugenommen.
Auch bei uns in den politischen Gremien spüren wir Veränderungen – Veränderungen, denen wir etwas entgegensetzen müssen. Denn nichts wäre falscher, als sich deshalb vom öffentlichen Geschehen abzuwenden, als die Nase zu rümpfen und den Streit und die Debatte anderen zu überlassen, die eben nicht auf einen Interessenausgleich aus sind!
Nein, wir müssen uns gerade jetzt der Debatte stellen, wir müssen uns beteiligen und dem Ruf der Wohlfühloasen widerstehen – weil Sich-Raushalten dauerhaft keine Alternative ist!
Personen wechseln, Demokratie bleibt
Und schließlich, das will ich als letzten Punkt nennen, gehört zur Demokratie, dass sie von Menschen gemacht wird. Von Menschen mit ihren jeweiligen Eigenarten und Handschriften, Stärken und Schwächen. Und dabei gilt immer: Die handelnden Personen wechseln, die Demokratie bleibt.
In einer vitalen Demokratie muss es Wechsel und Erneuerung geben. Politische Ämter werden immer nur auf Zeit verliehen. Gelsenkirchen bildet da keine Ausnahme.
Ich habe es schon vor ein paar Monaten gesagt: Die Entscheidung, nicht noch einmal für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren, die ist mir schwergefallen. Sehr sogar. Ich war noch lange nicht fertig mit diesem Amt und meiner Stadt – und ich werde es so bald wohl auch nicht sein!
Und schon deshalb kann ich Ihnen versprechen: Ich habe in all den Jahren dieses so schöne, dieses so besondere Amt in meiner Heimatstadt, in unserer Stadt so gut ausgeübt, wie ich es nur konnte. Und Sie dürfen sicher sein, denn ich habe bisher stets mein Wort gehalten: Das werde ich auch bis zum 31. Oktober dieses Jahres genauso weiterhalten!
Ich werde weiter mit aller Kraft für Gelsenkirchen tätig sein – nicht zuletzt, weil auch ich die Erfahrung gemacht habe, die vielleicht manche von Ihnen ebenfalls gemacht haben: Es lohnt sich, sich für einen Ort und ganz besonders für diesen Ort zu entscheiden, für Gelsenkirchen – und hier seinen Anker zu setzen und hier zu wirken!
Es lohnt sich, auch wenn es andere Angebote gibt, die vielleicht verlockender erscheinen mögen, die mehr Geld und mehr Ehre versprechen – womöglich sogar für einen geringeren Aufwand. Und ja, solche Angebote gab es auch in meinem politischen Leben! Aber ich kann Ihnen trotzdem sagen: Wenn sich solche Perspektiven nicht ganz richtig anfühlen, wenn dabei etwas fehlt, wenn das Herz nicht dabei ist – dann kann und dann wird es auch so sein, dass das Engagement in und für Gelsenkirchen das Richtige ist! Und dann lohnt es sich einfach, hier tätig zu sein und hier sein Bestes zu geben, für diese Stadt und ihre Menschen – die es so sehr verdient haben
Denn es ist ja in unserer Stadt wie so oft im Leben: Je mehr man an der richtigen Stelle gibt, umso mehr bekommt man zurück!
Das ist eine Wahrheit, die ich erfahren durfte, für die ich dankbar bin. Und es ist eine Wahrheit, die ziemlich sicher unsere heutigen Talkgäste kennen, von der sie sich ebenfalls leiten lassen. Darüber werden sie nun gleich selbst berichten.
Wir haben unsere heutigen Gäste ausgewählt, weil sie – in meinen Augen – ihre Rolle in unserem Gemeinwesen gefunden haben – und weil sie in der Art, wie sie ihre Rolle ausüben, durchaus so etwas wie Vorbilder sein können.
Ob Sie selbst, meine Damen und Herren, auch so etwas sein können wie ein Vorbild, ob Sie sich wie eines verhalten – nun, das möchte ich jedem selbst überlassen. Aber Sie haben eine Rolle in diesem Gemeinwesen – oder suchen sie gerade. Sie wissen: Ja, auch ich habe eine Rolle in dieser Stadtgesellschaft – und auch ich trage in dieser Stadt Verantwortung!
Und da ich zum letzten Mal die Gelegenheit und Freude habe, einen Neujahrsempfang der Stadt Gelsenkirchen zu eröffnen, will und muss ich es nun einfach, obwohl es eigentlich noch etwas zu früh dafür ist, nutzen, dass ich so vielen engagierten Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern gegenüberstehe. Ich möchte mich bedanken – für Ihren Einsatz für unsere Stadt – und für die gute Zusammenarbeit in all den letzten Jahren – im Dienste unserer Stadt!
Und wie gesagt: Ich freue mich auf die Zusammenarbeit in den nächsten zehn Monaten!
Und nun bleibt mir noch, Ihnen ein gutes Jahr 2020 zu wünschen. Und ein gutes Jahrzehnt, eine Zeit, für die Gelsenkirchen gut gerüstet ist, zumindest dann, wenn wir uns weiter um unser Gemeinwesen kümmern. Wenn wir oft genug demokratische Haltung zeigen und uns daran erinnern, wie wichtig in diesem Gemeinwesen der Besitz ganz einfacher und grundlegender Tugenden ist: Neugier, Toleranz, Offenheit, Gesprächsbereitschaft, ein Sinn für das Miteinander – und das Rückgrat.
Ihnen allen und der Stadt Gelsenkirchen ein herzliches Glück auf!