25. Juni 2020, 08:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Vor 75 Jahren – am 8. Mai 1945 – endete der Zweite Weltkrieg. Ein Tag, der bis heute und hoffentlich für immer nicht vergessen wird. Für die Stadtzeitung GELSENKIRCHEN erinnert sich Hannelore Ochs, damals 16 Jahre alt, an den Sommer nach Kriegsende.
Hannelore Ochs wurde 1929 in Gelsenkirchen geboren. Sie lebte damals in Heßler und heute in Resse. Sie erinnert sich noch sehr gut an diese Zeit. „Zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebte ich mit meiner Mutter, meiner Schwester (11 Jahre) und meinem Bruder (17 Jahre) in einem Ort bei Lübbecke. Hierhin waren wir einige Wochen vor Kriegsende evakuiert worden. Als die Amerikaner einmarschierten, wussten wir, dass der Krieg endlich vorbei war. Das war eine große Erleichterung."
Doch die Menschen standen nun vor besonderen Herausforderungen. Lebensmittel und Wohnraum waren knapp. Im Frühjahr 1945 waren von den ehemals 92.000 Wohnungen in Gelsenkirchen nur noch 42.000 bewohnbar. „Noch im Mai 1945 kehrten wir nach Gelsenkirchen zurück. Die Amerikaner hatten unsere Wohnung besetzt. Sie räumten sie aber, als wir zurückkamen. Wir hatten Glück. Unsere Wohnung stand noch. Vieles stand aber in Schutt und Asche“, erinnert sich Hannelore Ochs.
Die Zerstörungen während des zweiten Weltkriegs in Gelsenkirchens haben sich bei Hannelore Ochs förmlich eingebrannt „Wenn die Bombenangriffe kamen, hatten wir Angst. 1944 war mein Großvater bei einem Angriff bereits gestorben. Wir suchten immer Zuflucht in einem Stollen der Zeche Wilhelmine Victoria. Er war extra dafür ausgebaut worden. Wir mussten 15 Minuten dorthin laufen – eine lange Zeit, wenn die Bomben schon fielen. Wenn wir dann nach den Angriffen wieder nach Hause liefen, betete ich oft : Oh Gott, bitte mach dass das Haus noch steht.“
Hannelore Ochs` Vater war allein in Gelsenkirchen geblieben und erlebte das Weltkriegsende 1945 so. „Als die Amerikaner in Gelsenkirchen einmarschierten, fand mein Vater eine Ausgabe von „Mein Kampf“ in unserem Haus, das mein Bruder dort versteckt hatte. Aus Angst warf mein Vater dieses Buch in die Jauchegrube, die sich hinter der Gartenlaube befand. Obwohl die Jauchegrube sehr schlecht einzusehen war, wurde mein Vater dabei gesehen und von den Amerikanern verhaftet, die das Buch aus der Grube holten , einzelne Seiten herausrissen und zur Abschreckung aufstellten. Mein Vater wurde jedoch nach kurzer Zeit wieder freigelassen, denn zum Glück war er nie Mitglied der NSDAP gewesen.“
Der Gelsenkirchenerin ist besonders das so genannte „Hamstern“ in Erinnerung geblieben. Die Rationen, die es damals auf Bezugsmarken gab, waren so gering, dass Erwachsene und Kinder unter Mangelerscheinungen litten. Daher mussten die Menschen auf Hamsterfahrten gehen. Die verbliebenen Wertsachen wurden bei Bauern gegen Kartoffeln, Eier und Gemüse eingetauscht. Da die Familie von Hannelore Ochs keine Wertsachen hatte, mussten sie bei den Bauern um ein paar Kartoffeln betteln – wie sie selbst sagt. Aber: „Ich möchte den vielen Bauern, insbesondere denen in Ostwestfalen-Lippe, meinen Dank aussprechen. Ohne sie wären viele Menschen zu der Zeit in Gelsenkirchen verhungert.“
Das„Hamstern“ war nicht immer ungefährlich. Hannelore Ochs berichtet: „An einem Tag ging meine Mutter ohne mich „Hamstern“. Als sie abends nicht zurückkehrte - wir hatten überhaupt nichts mehr zu essen – bat mich mein Vater aus dem Spinat im Garten eine Suppe zu kochen. Da ich bisher noch nie wirklich gekocht hatte – ich hatte mich immer aufs Lernen konzentriert – wusch ich den Spinat nicht richtig aus und wir aßen am Ende eine Spinatsuppe mit Einlage – mit Sandeinlage,“ lacht Hannelore Ochs. „Meine Mutter kehrte erst am nächsten Abend zurück. Sie wurde beim „Hamstern“ ertappt, verhaftet und eingesperrt. Nachdem sie wieder freigelassen wurde, hamsterte sie erneut und kam mit ein paar Kartoffeln wieder heim.“
Die Menschen mussten erfinderisch sein und andere Wege finden, um sich ausreichend ernähren zu können. Bei Hannelore Ochs` Familie sah das so aus: „Mein Vater war Fördermaschinist auf der Zeche Wilhelmine Victoria. Er wurde als Schwerarbeiter eingestuft und bekam daher auf der Arbeit für ihn selbst bestimmte nahrhafte und leckere Butterbrote, die er aber mit uns allen nach Feierabend teilte, und darüber hinaus auch regelmäßig Schnaps. So sollten die Arbeiter bei Laune gehalten werden. Da mein Vater keinen Schnaps trank, tauschte ich ihn bei einer Metzgerei gegen Wurst und insbesondere Schinken ein. Das war aber verboten! Trotzdem nahm ich immer wieder meinen Mut zusammen, ging Umwege zur Metzgerei, schaute mich immer nach links und rechts um und konnte so für uns Wurst besorgen, glücklicherweise!“, berichtet die 91-Jährige.
„Als das Kriegsende kam, waren wir natürlich alle erleichtert. Wir machten uns gleichzeitig auch Sorgen, wie die Zukunft aussehen würde. Eine Perspektive zu haben war wichtig. Ich wollte gerne auf eine weiterführende Schule gehen. Alle Schulen waren aber 1945 noch geschlossen. Ich konnte in den Jahren darauf auf die Höhere Handelsschuhe gehen und mein Fachabitur machen. Ein Studium war finanziell nicht möglich – mein Vater musste uns alle drei durchbringen und damals gab es kein BAföG. Da war ein Studium nicht drin. Ich bekam aber die Chance bei einem Wirtschaftsprüfer Karriere zu machen. Ich habe gutes Geld verdient und war zufrieden.“
Auf die Frage hin, ob sie noch wüsste wie damals das Wetter im Sommer 1945 war, antworte Hannelore Ochs: „Ich erinnere mich nicht mehr. Aber negativ ist es mir nicht in Erinnerung geblieben. Aber ob das Wetter beim Hamstern schlecht oder gut war, war nebensächlich. Es ging nur darum zu überleben. Es ging nur darum, dass man satt wurde.“