17. November 2021, 06:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Vor 151 Jahren wurde in Gelsenkirchen eine „Synagogengesellschaft“ gegründet, aus der später eine eigenständige jüdische Gemeinde hervorging. Doch die Geschichte des jüdischen Lebens in unserer Mitte beginnt schon viel eher. Bereits im 18. Jahrhundert wurden im damaligen Dorf Gelsenkirchen erstmals jüdische Familien erwähnt, laut historischen Aufzeichnungen lebten im Jahr 1731 zehn jüdische Bürgerinnen und Bürger in Gelsenkirchen, rund 100 Jahre später, im Jahr 1829, war die Zahl auf 14 angestiegen. Die Wege waren seinerzeit weit: Die Jüdinnen und Juden aus Gelsenkirchen gehörten damals der Synagogengemeinde Wattenscheid und damit der Hauptsynagogengemeinde Hattingen an.
Die Wende kam erst mit der Industrialisierung im Ruhrgebiet: Als immer mehr Arbeitskräfte ins aufstrebende Gelsenkirchen zogen, kamen auch immer mehr Jüdinnen und Juden in die Stadt. Im Jahr 1861 lebten bereits etwa 60 Jüdinnen und Juden in Alt-Gelsenkirchen, der Wunsch, eine eigene Synagoge vor Ort zu bauen, wuchs. „Am 28. August 1870, also vor 151 Jahren, haben elf jüdische Männer in Gelsenkirchen erstmals schriftlich festgehalten, dass sie die Gründung einer eigenständigen Synagoge in Gelsenkirchen anstreben. Man wollte hier vor Ort nicht länger zur Wattenscheider Synagoge und zur Hauptsynagogengemeinde Hattingen gehören, sondern eigenständig werden. Die Synagoge ist für jüdische Menschen eine Heimat, daher war dieser ‚kleine Moment‘, in dem die Statuten für die Gründung festgehalten wurden, von großer Wichtigkeit für den weiteren Verlauf des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen. Deshalb wollen wir an diesen Tag vor 151 Jahren erinnern“, erklärt Judith Neuwald-Tasbach, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Original-Urkunde vom 28. August 1870 wiedergefunden wurde. Ursprünglich sollte dieser Plan, in Gelsenkirchen eine Synagoge zu bauen, nach 150 Jahren groß gefeiert werden, wegen der Corona-Pandemie wurde dieses Vorhaben um ein Jahr verschoben. Am 29. August 2021 feierte man nun die Anfänge des organisierten jüdischen Lebens in Gelsenkirchen und blickte gemeinsam auf die wechselvolle Geschichte zurück. Denn bereits im Jahr 1874 wurde die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen aus der Wattenscheider Gemeinde ausgegliedert und traf sich in einem jüdischen Betsaal in der Stadt, im August 1885 wechselte die Gemeinde in die neuerbaute eigene Synagoge an der Neustraße und wuchs stetig an: Nachdem die Jüdinnen und Juden aus Ückendorf im Jahr 1908 in die Gelsenkirchener Gemeinde eingegliedert wurden, wuchs die Zahl der Jüdinnen und Juden auf 1215. Neben der Synagoge als Gotteshaus gab es zu jener Zeit auch eine jüdische Schule in Gelsenkirchen. Der jüdische Friedhof an der Wanner Straße wurde 1927 vollbelegt geschlossen, und durch einen Zweiten in Ückendorf ergänzt, der heute noch von der Gemeinde für Bestattungen genutzt wird.
Neben der liberalen Gemeinde gab es in Gelsenkirchen noch drei Gruppen orthodoxer Juden, die ihre Betsäle an der Arminstraße, an der Bahnhofstraße 14 und an der heutigen Husemannstraße nutzten. Aufstrebende jüdische Gemeinden gab es auch in Buer und Horst. Im Jahr 1932 lebten im Süden von Gelsenkirchen etwa 1440 Juden, in Buer 150 Gemeindemitglieder und in Horst etwa 90 Juden.
Die jüdische Bevölkerung in ganz Gelsenkirchen bestand neben Arbeitern, Angestellten und kleinen Handwerkern vor allem auch aus vielen Kaufleuten. In den Einkaufsstraßen von Gelsenkirchen und Buer wurden viele Geschäfte von Jüdinnen und Juden betrieben: Die Metzgerei Grüneberg, die Kaufhäuser der Firma Alsberg, die edle Pelzmodenhandlung Gompertz oder auch das Bettenfachgeschäft Betten Neuwald an der Arminstraße. Dies änderte sich, als die NSDAP im Jahr 1938 die komplette „Arisierung“ beschloss: Jüdinnen und Juden wurden somit aus dem Wirtschaftsleben verdrängt und zur Abgabe eines Großteils ihres Vermögens gezwungen.
In der so genannten „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938 brannten die Synagogen in Gelsenkirchen und Buer und wurden genauso wie viele Geschäfte vollständig zerstört.
Von September 1939 bis Juli 1942 wurden alle Jüdinnen und Juden, die nicht aus Gelsenkirchen fliehen konnten, in Konzentrationslager deportiert, das jüdische Leben vor Ort wurde komplett ausgelöscht. Eine zentrale Datenbank des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) sammelt die Namen der Jüdinnen und Juden, die in den Jahren 1933 bis 1945 in Gelsenkirchen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. Sie enthält Informationen zum Schicksal von mehr als 2.000 jüdischen Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern und wird laufend erweitert.
Nur wenige Jüdinnen und Juden kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Gelsenkirchen zurück. Ein jüdisches Hilfskomitee, das ihnen beim Neustart half, wurde eingerichtet. Hieraus entstand später die heutige Jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen. Diese traf sich zunächst ab 1946 in der Von-der-Recke-Straße, wo ein Gemeindesaal, ein Schulraum, Büros und eine Bücherei untergebracht waren. Am 29. Juni 1958 wurde im gleichen Haus ein neuer Betsaal eingeweiht.
Die Räumlichkeiten wurden schnell zu klein, als nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren immer mehr Jüdinnen und Juden nach Gelsenkirchen umsiedelten. Mit Unterstützung von Stadt und Landesregierung wurde der Neubau einer Synagoge beschlossen, deren Grundstein im November 2004 gelegt wurde. Am 1. Februar 2007 wurde die Neue Synagoge mit integriertem Gemeindezentrum auf dem Platz der 1938 niedergebrannten Synagoge eröffnet. Heute zählt die jüdische Kultusgemeinde in Gelsenkirchen 320 Mitglieder.