31. Januar 2025, 13:50 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Wie kann die Europäische Union (EU) die positiven Entwicklungen des Ruhrgebiets zur grünen Industrieregion und Bildungsmetropole unterstützen? Wie ist der soziale Zusammenhalt zu erhalten und zu stärken? Die EU beeinflusst mit Fördergeldern oder auch mit Regelungen wie etwa der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Lebensverhältnisse und den sozialen Zusammenhalt in den Kommunen. Deshalb hat der Kommunalrat im Regionalverband Ruhr (RVR) diese und weitere Fragen am 29. und 30. Januar mit Spitzenvertreterinnen und -vertretern der EU beim Ruhr Dialog 2025 in Brüssel diskutiert und seine Forderungen eingebracht. Das Ziel der erneuten Delegationsreise war es, sich frühzeitig in die Diskussion um die Neuausrichtung der EU-Förderpolitik einzubringen. Der Kommunalrat ist das Gremium der Hauptverwaltungsbeamten des RVR, dem neben Oberbürgermeisterin Karin Welge zehn Oberbürgermeister sowie vier Landräte des Ruhrgebiets angehören.
Sehr intensiv wurde in Brüssel über die Sicherung des Binnenmarktes und der eigenen Wirtschaft und der damit verbundenen Sicherung der industriellen Arbeitsplätze gesprochen. Große Hoffnungen legt der Kommunalrat dabei auf die Vereinfachung von Regularien, den flexibleren Zugang zu Fördermitteln und der Risikominimierung für die Wirtschaftsunternehmen.
Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge und der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link machten im Fachdialog Soziale Kohäsion deutlich, wie es um den sozialen Zusammenhalt in ihren Städten steht. Der sei durch die Regelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und die damit verbundenen Zuwanderungen aus EU-Ost zusätzlich belastet, so Karin Welge. Gelsenkirchen hat mit fast 15 Prozent die höchste Arbeitslosenquote im Ruhrgebiert. Die derzeit rund 12.000 Menschen aus EU-Ost leben oft in prekären Lebensverhältnissen in Problemimmobilien. Die Zahl der zugewanderten bulgarischen Staatsangehörigen ist im Zeitraum von 2014 bis heute um 334 Prozent gestiegen, die der rumänischen Staatsangehörigen um 233 Prozent. Insgesamt ist der Anteil der Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit um 207 Prozent angewachsen.
Die Menschen aus EU-Ost haben kaum einen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, mehr als die Hälfte bezieht Leistungen aus dem Bürgergeld. Wer arbeitet, ist oft in ausbeuterischen Strukturen im Niedriglohnbereich tätig. Die Integration dieser Zugewanderten gelingt nur sehr eingeschränkt. „Die Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien führt zu Spannungen in der unmittelbaren Nachbarschaft, aber auch in der gesamten Stadtgesellschaft“, weiß die Oberbürgermeisterin und betont: „Die Armutszuwanderung ist von den Kommunen allein nicht zu schultern.“
In Brüssel machte die Oberbürgermeisterin deutlich, wie die Stadt der Situation begegnet und welche Herausforderungen damit verbunden sind. So hat zum Beispiel das Interventionsteam EU-Ost im Jahr 2024 über 150 Objekte überprüft, um gegen untragbare Wohnverhältnisse in Problemimmobilen vorzugehen, aber auch um den unberechtigten Bezug von Sozialleistungen aufzudecken. Gelsenkirchens Ausgaben für Sozialleistungen für die oft bildungsfernen Großfamilien sind überproportional hoch. Neben Kontrollen und Repression setzt Gelsenkirchen auch auf präventive Maßnahmen, den Einsatz von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie auf Bildung. So sind zum Beispiel aufgrund der hohen Zuwanderung nicht nur aus EU-Ost neue Schulbauten erforderlich, deren Bau die Stadt finanziert.
Oberbürgermeisterin Karin Welge sieht die EU in der Pflicht, die Kommunen bei den zu erbringenden erheblichen Integrationsleistungen stärker und kontinuierlich zu unterstützen. Sie weist darauf hin, dass viele der kommunalen Ziele deckungsgleich mit den Zielen der EU sind. Dies sind zum Beispiel die Stärkung der Demokratie und des sozialen Zusammenhalts oder auch die Unterstützung der von Armut und Ausbeutung betroffenen Bevölkerungsteile. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine kontinuierliche und auch höhere Förderung mit Geldern aus dem Europäischen Sozialfond (ESF) erforderlich. Auch beim Ankauf und bei den Kosten für den Abriss von Problemimmobilien könne die EU mit entsprechenden Fördermitteln unterstützen.
„Vor allem aber muss der Zuwanderungsdruck aus Rumänien und Bulgarien geringer werden. Helfen würde, die EU-Rahmenbedingungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzupassen und den Arbeitnehmerbegriff zu überarbeiten“, so Karin Welge. „Wir müssen Arbeitnehmerfreizügigkeit neu regeln, um eine weitere Segregation und Spaltung in der Stadt zu verhindern.“ Außerdem müssten EU-weite Standards für die Erhebung und den Austausch der Daten zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und Armutsmigration geschaffen werden.
Oberbürgermeisterin Welge beklagt, dass die Sozialberichterstattung der EU die sozialen Entwicklungen in den EU-Mitgliedsstatten nicht immer differenziert genug im Blick habe. Daher diente die Reise auch dazu, die EU-Kommission für die regional spezifischen sozialen Herausforderungen zu sensibilisieren und auf die Fortführung eines starken ESF in Nordrhein-Westfalen hinzuwirken.
„Ich würde mich daher sehr freuen, wenn Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission oder Mitglieder der EU-Kommission der Einladung meines Amtskollegen Sören Link nach Duisburg und meiner Einladung nach Gelsenkirchen folgen würden. Vor Ort können sie sich dann ein Bild von der Situation und den verschiedenen Herausforderungen machen“, lädt Oberbürgermeisterin Karin Welge zu einem Besuch ein.